Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche
Einstichstelle wurde mit grüner Tinktur ein Rahmen gemalt. Wenn das Kind schon mal Kontakt mit den Tuberkulose-Bakterien gehabt hatte, entzündete sich der Einstich und schwoll an. Wenn das nicht passierte, war alles in Ordnung.
Bei Aminat hielt sich die Schwellung nicht an den vorgezeichneten Rahmen. Der ganzeUnterarm schwoll zu einem roten Kissen an. Mittendrin befanden sich die verzerrten grünen Striche. Als ich das sah, packte ich Aminat, putzte ihr die Nase, bügelte schnell ihre karierte Hose, damit sie anständig aussah, und rannte mit ihr in die Poliklinik.
Die für unseren Bezirk zuständige Therapeutin sah auf Aminats Arm, den ich ihr vor die Nase hielt, und schüttelte den Kopf. Sie sagte, so etwas hätte sie noch nie im Leben gesehen. Aber es könnte hilfreich sein, das Ganze noch mal am anderen Arm auszuprobieren. Aminat bekam eine zweite Spritze.
Am nächsten Morgen ging die Schwellung bis zur Schulter. Die Kinderärztin schüttelte missbilligend den Kopf und holte einen Stapel Formulare hervor. Aminat sollte Urin-, Kot- und diverse Blutproben abgeben und außerdem geröntgt werden.
Ich war für die nächsten Wochen beschäftigt. Ich sammelte Aminats Ausscheidungen zu den vorgeschriebenen Tageszeiten, schob die gefüllten Gläschen durch die ovalen Fenster der Labors, wusch Aminat den Hals und brachte sie zu den Untersuchungen. Die Ärzte taten ihre ehrenvolle Arbeit, und ich tat meine. Ich wurde eine Meisterin im Sammeln der Urinproben. Das klingt leichter, als es ist.
Ich war froh über die vielen anspruchsvollen Aufgaben, die mir in diesen Tagen zufielen, denn so hatte ich weniger Zeit, mir Sorgen zu machen. Aminat sah mit ihren roten Wangen sehr robust aus, aber auch robuste Kinder fielen schon mal plötzlich tot um oder entwickelten eben Tuberkulose. Nachts konnte ich deswegen nicht einschlafen. Ich jagte die Vorstellung von einem Kindersarg aus meinen Gedanken und beteteinbrünstig. Ich rief Gott in Erinnerung, wie gut ich immer zu Sulfia gewesen war. Jetzt war ich sogar bereit, mich mit ihr auszusöhnen, ihr eine letzte Chance zu geben, allen Groll zu vergessen, aber nur, wenn Aminat gesund werden würde. Ich lag mit dem Kopf auf meinem Kissen und flüsterte vor mich hin.
Kalganow drehte sich in diesen Nächten mit dem Rücken zu mir und hielt sich die Ohren zu. Er mochte es nicht, wenn ich mit Gott sprach. Er glaubte nicht an Gott, und er wollte nicht, dass ich ihn blamierte, indem ich an Gott glaubte. Er wollte vor allem nicht, dass andere erfuhren, dass ich an Gott glaubte und sogar mit ihm sprach. In unserem Bett gibt es doch gar keine anderen außer uns beiden, entgegnete ich. Genauer, außer uns beiden und Gott.
Überhaupt wurde Kalganow in dieser Zeit sehr empfindlich. Redewendungen wie »Gott sei Dank« ließen ihn zusammenzucken. Schlimmer war nur noch, wenn Aminat plötzlich »tykryk« statt Gasse sagte oder ihn »Babaj« nannte. Kalganow warf mir vor, dass ich diese Wörter ins Haus einschmuggelte, um Aminat die Chance zu nehmen, wie ein normales sowjetisches Kind aufzuwachsen. Ich war unschuldig, denn über meine Lippen kamen diese Worte in Aminats Anwesenheit sicher nicht. Vielleicht schwammen sie irgendwo in ihrem tatarischen Blut. Aber ich übte mich in Nachsicht. Wenn es sich vermeiden ließ, behielt ich auch meine Sicht der Dinge für mich. Kalganow war eben nur ein Mann und hatte schwache Nerven.
Aminats Kinderärztin legte ihren Tisch mit Untersuchungsergebnissen aus. AminatsLeukozyten, Thrombozyten, Erythrozyten, Antikörper, irgendwelche verdächtigen Eiweiße, Pigmente und Stäbchen waren alle genau abgezählt und notiert worden, manche sogar doppelt, weil die ersten Proben verunreinigt oder verschüttet worden waren. Aminats EKG lag neben ihren Röntgenbildern, und die Patientin reagierte begeistert: »Guck mal, ein Skelett!«
Ich gab Aminat keinen Klaps, obwohl sie mir den Rock zerknittert hatte. Ich sah bang auf ihre Ärztin. Diese übergewichtige Frau mit einem zerrupften Vogelnest dort, wo andere eine Frisur hatten, sollte jetzt ein Urteil sprechen – ob mein Mädchen leben würde und wenn ja, unter welchen Bedingungen.
Ich sah sie an. Sie schüttelte den Kopf. Ich spürte, wie meine Hände zu zittern begannen.
Aminat sprang von meinem Schoß und stellte sich neben mich. Sie begann, an meinem goldenen Ohrring herumzuziehen, und ich hatte immer noch nicht die Kraft zu einer Erziehungsmaßnahme, weil die Kinderärztin endlich zu reden begann.
Ich hörte ihr
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