Die Schakkeline ist voll hochbegabt, ey: Aus dem Leben einer Familienpsychologin (German Edition)
Kindern nicht gutzutun. Nichts Außergewöhnliches. Leider.
»Ich bin ein politischer Flüchtling aus dem Irak und seit zwanzig Jahren in Deutschland. Ich wäre fast gestorben im Irak. Ich hatte viele Schussverletzungen.«
Das hatte er doch gerade eben schon erzählt. Hatte er doch, oder?
»Herr Ibrahim, das sagten Sie bereits.«
»Ja? Und was habe ich noch gesagt?«
Er klang weder ironisch noch unverschämt, sondern tatsächlich interessiert.
Es war zu dunkel, um ihn genau betrachten zu können. Ich hatte aber so langsam den Verdacht, dass er irgendetwas genommen hatte oder vielleicht angetrunken war.
»Herr Ibrahim, wenn Sie nach so einer kurzen Zeit schon nicht mehr wissen, was Sie gesagt haben, sollten wir das Gespräch vermutlich verschieben. Wir vereinbaren einfach einen neuen Termin.«
»Nein, nein. Dann ist es ja auch nicht anders. Ich bin eben sehr vergesslich.«
»Das ist dann aber eine extreme Vergesslichkeit. Wissen Sie denn, wer ich bin und warum ich hier mit Ihnen rede?«
»Ja, sicher weiß ich das. Es geht ja um meine Kinder. Das vergesse ich doch nicht!« Herr Ibrahim schaute mich empört an und erhob sich. »Meine Kinder sind das Wichtigste in meinem Leben. Mein Ein und Alles! Die würde ich niemals vergessen. Sie sind mein Leben. Sie sind alles!« Wäre es räumlich möglich gewesen, wäre er zu seinen Worten wahrscheinlich theatralisch auf und ab gelaufen und hätte entsprechend große Gesten gemacht.
»Ich habe verstanden, Herr Ibrahim. Vielleicht sagen Sie mir einfach, was Sie noch wissen, und dann sehen wir weiter.«
Herr Ibrahim hatte offenbar in Bezug auf das rechtliche Verfahren keine Wissenslücken. Ich versuchte herauszufinden, auf was genau sich seine Vergesslichkeit bezog. Das konnte er aber selbst nicht erklären.
Er hatte sich wieder auf den Stuhl gesetzt, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.
»Ich weiß oft nicht, wenn ich was gesagt habe. Oder Dinge über meine Vergangenheit. Da ist ganz viel weg. Ich weiß auch nicht, wo ich herkomme. Manchmal kommen Menschen auf mich zu und sagen, dass sie meine Freunde sind, aber ich kenne die gar nicht.«
»Herr Ibrahim, um die Begutachtung durchführen zu können, muss ich wissen, worüber Sie sprechen können und worüber nicht. Also, an welche Dinge können Sie sich sicher erinnern?«
»Das weiß ich nicht.«
»Seit wann leiden Sie unter dieser Gedächtnisschwäche?«
»Seit fünf Jahren. Davor war alles okay. Ich bin im Bad gestürzt und wäre fast gestorben. Seitdem bin ich so vergesslich.«
»Gibt es vielleicht doch irgendwelche sicheren Erinnerungen?«
»Meine Kinder. Ich vergesse meine Kinder nie! Sie sind mein Leben. Mein Alles. An meine Kinder denke ich immer. Wie könnte ich die vergessen? Was wäre ich für ein Vater, wenn ich meine Kinder vergessen würde? Ich denke jeden Tag an sie. Immer. Sie sind das Wichtigste in meinem Leben …«
»In Ordnung. Also, was Ihre Kinder betrifft, können Sie sich an alles erinnern?«
»Nein.«
»Nicht?«
»Nein. Ich leide unter Vergesslichkeit. Ich weiß ganz oft Dinge nicht.«
»Wie können wir uns über die Vergangenheit unterhalten?«
»Manche Sachen weiß ich. Manchmal. Aber ich habe die wichtigen Dinge aufgeschrieben.«
»Ah, ja, das ist eine gute Idee. Sie haben also Tagebuch geführt seit ihrem Unfall im Badezimmer.«
»Nein. Davor. Ich habe davor alles aufgeschrieben. Deshalb kann ich alles beweisen. Dass Frau Aheim verrückt geworden ist und so.« Er lachte.
»Und nach Ihrem Sturz haben Sie kein Tagebuch mehr geschrieben?«
»Nein. Das habe ich immer vergessen.«
Es stellte sich heraus, dass Herr Ibrahim mir zwar sämtliche Verfehlungen und Probleme der Mutter seiner Kinder schildern konnte, aber nichts zu seinem eigenen Verhalten zu sagen wusste. So hatte Frau Aheim in den dreieinhalb Jahren des Zusammenlebens laut seiner Tagebucheintragungen (an die er sich problemlos erinnern konnte, denn er brauchte kein Tagebuch zur Unterstützung seiner Erläuterungen) unter anderem mehrfach in betrunkenem Zustand das gesamte Geschirr an der Wand und auch an Herrn Ibrahim selbst zerdeppert, sich mindestens zweimal pro Woche mit anderen Männern getroffen (und mit diesen auch Sex gehabt, weshalb er nicht sicher sei, ob sein Sohn tatsächlich von ihm sei), ihn mehrmals pro Nacht geweckt, weil sie Stimmen gehört habe, den Kindern erzählt, dass sie Angst davor habe, dass sie ihnen irgendwann etwas antun werde, und sich abstruse
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