Die Schakkeline ist voll hochbegabt, ey: Aus dem Leben einer Familienpsychologin (German Edition)
des bösen Jugendamtes, das Eltern einfach ihre Kinder wegnahm. Natürlich war die Situation zum Zeitpunkt von Joels Geburt schwierig gewesen. Und selbstverständlich war es damals notwendig gewesen, darauf zu achten, dass es Joel auch wirklich gutging, aber doch nicht auf diese Weise!
Ich rief den zuständigen Richter an und erkundigte mich nach meinen Möglichkeiten, doch noch einen Blick in die Akte zu werfen. Er versprach sein Möglichstes zu tun und meldete sich zwei Tage später wieder bei mir.
Was er erzählte, war wirklich unfassbar. Frau Gruber hatte ihm erklärt, die Akte sei »leider unauffindbar, möglicherweise versehentlich vernichtet worden«. Ich sah Frau Gruber vor mir, wie sie unter bösem Gekicher die Akte verbrannte und die Flammen ihr Gesicht noch fieser aussehen ließen, als ich es mir ohnehin schon vorgestellt hatte.
Nun gut. Es gab also keine Akte. Im Grunde war es auch nicht wirklich wichtig. Denn ob aus falschen Gründen oder nicht, Joel lebte seit mehr als fünf Jahren bei seiner Pflegefamilie. Der Fall lag aus Joels Perspektive ganz ähnlich wie der von dem kleinen Boris: Auch er empfand seine Pflegeeltern als Eltern. Dort war sein Zuhause. Seine leiblichen Eltern hatte er sogar noch seltener gesehen als Boris die seinen.
Und doch war so vieles ganz anders.
Inzwischen war ich davon überzeugt, dass es nicht notwendig gewesen war, Joel von seinen leiblichen Eltern zu trennen. Mit der nötigen Hilfe und Unterstützung hätten diese sicherlich für ihn sorgen können. Aber die Zeit ließ sich nun einmal nicht zurückdrehen. Hier half nur, nach vorne zu schauen und nun das Beste aus der Situation zu machen.
Ich besuchte Joel bei seinen Pflegeeltern, dem Ehepaar Wieland. Joel sah seinem Vater frappierend ähnlich und war ein netter Junge mit einem ansteckenden Lachen. Damit ich noch in Ruhe mit den Pflegeeltern sprechen konnte, kam Frau Wielands Schwester vorbei und ging mit ihm auf den nahe gelegenen Spielplatz.
Herr und Frau Wieland hatten einen dicken Ordner auf den Tisch gelegt und erklärten, mit Joel hätte alles seine Richtigkeit. Sie hätten schon mit ihrem Anwalt gesprochen. Ich dürfe ihnen Joel nicht so einfach wieder wegnehmen. Noch bevor ich etwas erwidern konnte, brach Frau Wieland in Tränen aus: »Bitte! Bitte lassen Sie uns dieses Kind! Wir lieben Joel wie ein eigenes Kind. Und er ist hier glücklich. Glauben Sie mir!«
Ich hätte sie gerne beruhigt, aber sie ließ mich nicht zu Wort kommen.
»Wir hatten uns ursprünglich um eine Adoption beworben. Jahrelang passierte nichts. Und dann rief das Jugendamt an und sagte, sie hätten ein Kind für uns. Erst einmal zur Pflege, aber dann wäre das alles kein Problem, und wir könnten ihn ganz bald adoptieren. Ich wollte nie ein Pflegekind, weil ich diese Angst, dass ich es wieder hergeben muss, nicht ertragen kann. Und jetzt passiert womöglich genau das!«
Frau Wieland schluchzte und war vollkommen aufgelöst.
Und ich war fassungslos.
Das Jugendamt hatte einem Elternpaar, das ein Adoptivkind wollte, Joel vermittelt. Das war einfach ungeheuerlich. Zum einen, weil damit mehr als klar war, dass Frau Gruber schon bei der Vermittlung des Kindes eine Rückführung zu den leiblichen Eltern ausgeschlossen hatte. Und zum anderen, weil man das Ehepaar Wieland in eine Situation gebracht hatte, auf die sie nicht vorbereitet gewesen waren, ja, die sie ganz klar abgelehnt hatten. Wie hatte Frau Gruber ihnen sagen können, eine Adoption des Kindes sei kein Problem?
Hier war wirklich einiges schiefgelaufen!
»Frau Wieland, hören Sie, ich …«
»Ich bin wirklich am Ende meiner Kräfte. All die Jahre wollten wir ein Kind. Und dann kam Joel. Alles war gut. Aber wir wurden immer wieder vertröstet wegen der Adoption. Und dann haben wir erfahren, dass die Eltern den Kleinen gar nicht hergeben wollten! Das war ein Schock! Und dann haben die beiden geheiratet. Seitdem leben wir in ständiger Angst, dass man uns Joel wieder wegnimmt! Und jetzt, wo sie noch ein Kind haben und …« Sie schluchzte. »Ich habe Joels Eltern vor einem halben Jahr kennengelernt. Die sind ganz liebe Menschen. Die sind überhaupt nicht so, wie Frau Gruber immer gesagt hat. Aber da können wir doch nichts dafür! Ich verstehe nicht, was da schiefgelaufen ist, aber Joel gehört doch hierher. Bitte …«
Nun liefen auch Herrn Wieland Tränen über das Gesicht.
Ich wünschte, Frau Gruber würde sehen, nein, besser noch: erkennen, was sie da angerichtet
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