Die Schakkeline ist voll hochbegabt, ey: Aus dem Leben einer Familienpsychologin (German Edition)
Ein konkretes Bild von Margarethas Problemen konnte ich mir noch nicht so wirklich machen.
Ich las weiter.
Sie besuchte die erste Klasse der Grundschule. Margarethas Eltern, so der Bericht, seien zwar gesprächsbereit, jedoch nicht einsichtig. Offenbar seien sie »nicht dazu in der Lage, die Verhaltensauffälligkeiten ihrer Tochter zu erkennen«.
Wenn ich doch nur wüsste, was
genau
dieses Kind so auffällig machte!
Da. Auf Seite zwei stand es: »Margaretha fällt vor allem dadurch auf, dass sie in einem weit über das übliche altersgemäße Maß hinaus Insekten sammelt.«
Ich sah ein kleines Mädchen vor mir, das einen riesigen Leiterwagen voller Insekten hinter sich herzog und immer neue Viecher einsammelte und hineinwarf.
Ich las den Satz noch einmal.
Als Diplom-Psychologin und Sachverständige sollte ich wahrscheinlich wissen, was das »übliche altersgemäße Maß des Insektensammelns« für eine Erstklässlerin ist. Tat ich aber nicht. Da hatte ich wohl an der Uni gefehlt …
Ich beschloss zunächst einmal mit der Lehrerin zu sprechen, um Genaueres zu erfahren.
Frau Drechsler war eine vielbeschäftigte Frau. Zumindest nahm ich das an, denn sie war nie zu erreichen.
Ich kenne die Problematik der Erreichbarkeit von Lehrern weiterführender Schulen und bin daran trotz allem Verständnis häufig verzweifelt. Bei Grundschullehrern hatte ich diese Schwierigkeiten bislang nicht gehabt. Aber Frau Drechsler war entweder im Unterricht, in Elterngesprächen oder als Pausenaufsicht eingeteilt. Nach tagelangem Hinterhertelefonieren hatte ich endlich Erfolg. Frau Drechsler lief genau in dem Moment am Sekretariat vorbei, als ich anrief. Vor meinem geistigen Auge warf sich die Sekretärin um die Beine von Frau Drechsler und brachte sie so zu Fall, nur um ihr dann gewaltsam den Telefonhörer an den Kopf zu drücken.
»IchhabenurzweiMinutenfürSie!«
Ich nannte schnell meinen Namen und mein Anliegen und wollte gerade nach konkreten Verhaltensauffälligkeiten und vor allem der genauen Menge der gesammelten Insekten fragen, als mich Frau Drechsler unterbrach.
»Also, das ist ja eine Ka-ta-stro-phe mit diesem Mädchen! Vollkommen gestört, das Kind. Ich weiß gar nicht, wie ich das den anderen Kindern erklären soll! Also, wenn Sie mich fragen, dann muss das Mädchen ganz schnell aus diesem Umfeld heraus. Das ist ja nicht mehr …«
»Entschuldigen Sie, dass ich Sie unterbreche, Frau Drechsler. Aber könnten Sie mir bitte etwas genauere Informationen …«
»Ja, wissen Sie, dieses Mädchen, also … Dieses ständige Insektensammeln! Das ist doch krankhaft. Da muss man doch was tun! Und die Eltern … Also, der Vater … Ich bitte Sie …«
Ich musste noch einmal nachhaken.
»Frau Drechsler, wie viele Insekten sammelt Margaretha denn so? Könnten Sie …«
»Unmengen, sag ich Ihnen! So etwas können Sie sich nicht vorstellen! Das ist wirklich sehr gestört! Und für die anderen Kinder ist das ja auch problematisch, wenn sie mit so einem Verhalten konfrontiert sind. Und die Eltern von dem Mädchen haben ja überhaupt keine Einsicht! Völlig beratungsresistent, sage ich Ihnen. Völlig! Da ist nichts zu machen. Ich hab es ja versucht, aber diese Leute … Na, das werden Sie ja schon noch selbst sehen. Ich würde da ja nicht alleine in die Wohnung gehen. Nehmen Sie da lieber jemanden mit! Die Mutter einer Klassenkameradin wohnt da in der Nähe, und was die mir schon für Geschichten erzählt hat. Ich halte diese Leute für sehr gefährlich.«
Ich nutzte eine minimale Atempause der Lehrerin: »Gefährlich? Inwiefern denn?«
»Na, diese ganzen Waffen! Und diese dunkle Kleidung und all das. Ich habe einen Artikel gelesen: In Amerika gibt es kugelsichere Tornister. Die können sich die Kinder dann wie einen Schutzschild vor sich halten. Ich werde anregen, dass solche Schultaschen bestellt werden. Nur zur Sicherheit. Bei solchen Menschen weiß man nie. Oh, es hat geläutet. Ich muss in die Klasse. Auf Wiederhören. Und passen Sie auf sich auf!«
Sprach es und legte auf.
Ich tat das, wovon ich immer geglaubt hatte, es sei eine alberne Erfindung und
niemand
würde das jemals tun: Ich schaute verwundert das Telefon an, das ich noch in der Hand hielt. Vielleicht
muss
man nach einer bestimmten Art von Gespräch einfach jemanden oder etwas verwundert anschauen. Und ich finde, da ist ein Telefon ein guter Partner. Das schaut nämlich ganz genauso erstaunt und verständnislos zurück. Da fühlt man sich doch
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