Die Schakkeline ist voll hochbegabt, ey: Aus dem Leben einer Familienpsychologin (German Edition)
weiter wohnte. Sie könne jetzt dort anrufen und darum bitten, dass Margaretha für das Gespräch mit mir nach Hause komme.
Ein paar Minuten später stand Margaretha vor mir.
Sie hatte dunkle lange Haare, in die ein paar Lederbänder geflochten waren, riesige braune Augen und das gesamte Gesicht voller Sommersprossen. Margaretha war barfuß und trug ein langes Leinenkleid mit einem braunen Ledergürtel, an dem mehrere lederne Taschen baumelten.
»Margaretha, ich hab dir doch gesagt …« Frau Krüger war offensichtlich gar nicht glücklich mit dem Outfit ihrer Tochter.
»Aber Mama, ich sollte doch gleich hierherkommen. Und da hab ich die Sachen eben angelassen. War das falsch?« Sie sah ihre Mutter mit großen Augen an.
Diese seufzte. »Nein, das war es nicht. Es ist nur … Manche Leute … Ach, du hast ja recht. So warst du schneller hier. Und jetzt gehst du mal mit der Frau Seeberg in dein Zimmer, ja?«
»Okay.«
Margaretha schaute mich an, nickte und ging vor.
Ich ging ihr gespannt hinterher.
Ihr Zimmer war auf den ersten Blick ein ganz normales Kinderzimmer. Wenn man genauer hinsah, fanden sich allerdings doch manche Dinge, die man hier nicht erwartet hätte. Auch an ihrer Wand hing ein Schwert. Ein kleineres als im Wohnzimmer, aber eben ein Schwert.
Margaretha hatte viele Bücher, und auf ihrem Schreibtisch standen Tintenfässer und mehrere Schreibfedern. Über dem Schreibtischstuhl hing ein großer dunkelbrauner Umhang, und daneben lagen am Boden einige Ledergürtel und -taschen. Im Regal lagen alte Messer bzw. Dolche. So genau kannte ich mich da nicht aus. Insgesamt sah das Zimmer eher wie ein Jungenzimmer aus. Alles war in Erdfarben gehalten. Kein Rosa weit und breit. Und kleine Glitzerponys fand man hier auch keine.
Margaretha setzte sich auf den rotbraunen Teppich und fragte mich, ob ich auch auf dem Boden sitzen oder ihren Schreibtischstuhl haben wolle. Ich entschied mich für den Boden.
Nach einer kurzen Aufwärmphase fragte ich Margaretha, ob es etwas gebe, das sie ganz besonders interessiere. Ihre Augen leuchteten: »Ja, ganz viel!«
»Zum Beispiel …?«
»Alsooooo, das Mittelalter zum Beispiel. Wie die Menschen da gelebt haben und was die so gemacht haben und so. Und Schwertkampf und so was. Ich will unbedingt lernen, wie man ein Schwert schmiedet. Uuuuund dann kann ich jetzt auch schon Brot backen. Warte, ich hab ein Foto davon.«
Sie wühlte in ihrer Schreibtischschublade und kramte ein Foto hervor.
Ich konnte einfach nichts Gestörtes an ihr entdecken. Sie war ein wenig anders als der Prototyp eines Mädchens, und ihre Vorliebe für Mittelalter und Schwertschmiedekunst war sicher … besonders, aber gestört? Nein. Nun vielleicht kam das ja noch. Immerhin kannte ich das Mädchen noch keine Stunde.
Margaretha hielt mir ein Foto hin. Es zeigte sie in dem gleichen Kleid, das sie gerade trug. Sie trug noch so etwas wie eine Haube und hielt ein riesiges Brot über den Kopf wie einen Pokal. Im Hintergrund sah man helle Zelte und zwei Frauen, die ähnlich gekleidet waren wie Margaretha.
»Wo bist du da gewesen?«
»Na, auf einem Markt. Sieht man doch.«
Sie rutschte zu mir und sah mit mir auf das Bild. »Und daaahaaaa, da hinten, da kämpft mein Papa gerade.«
Ich konnte nichts erkennen.
»Dein Vater … kämpft??«
»Ja, mit den Schwertern. Der ist da richtig gut. Der hat mir das auch schon gezeigt. Ich kann schon … wie heißt das? Ich kann schon machen, dass der andere mich nicht trifft. Und ich kann auch gut angreifen. Soll ich zeigen?«
Sie war schon auf ihren Schreibtisch geklettert, um das Schwert von der Wand nehmen zu können.
Dann stellte sie sich vor mich in Pose.
Es sah toll aus. Mit ernster, aber nicht verkrampfter Miene kämpfte sie mit einem unsichtbaren Gegner. Sie war ganz und gar versunken in ihr Tun.
Mir dämmerte so einiges.
Ich hatte endlich kapiert, dass sie offenbar mit ihren Eltern häufig auf Mittelaltermärkte ging. Daher ihr Interesse am Schwertkampf, an der Schmiedekunst und dem Brotbacken. Deshalb hing ein Umhang über ihrem Stuhl, und dort trug sie das Kleid, das sie heute anhatte. Als ich sie mit dem Schwert sah, ahnte ich, dass sie kein Kind war, mit dem ihre Lehrerin, Frau Drechsler, etwas anfangen konnte. Sie war nämlich … irgendwie anders. Ich empfand ihr Anderssein als sehr angenehm. Aber ich hatte den Verdacht, dass Frau Drechsler nichts übrighatte für Kinder, die anders waren. Und schon gar nicht, wenn es sich
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