Die Schandmaske
ich«, sagte Ruth kurz. »Sie wissen wohl, dass sie meiner Mutter das Ding immer aufgesetzt hat, als sie noch klein war?« Sie rauchte nervös, mit kurzen, hastigen Zügen, und stieß den Rauch durch die Nase aus. Als sie Sarahs Ungläubigkeit sah, fügte sie hinzu: »Sie können es mir glauben. Großmutter hat's mir mal erzählt. Sie hasste es, wenn man weinte, drum hat sie meiner Mutter jedes Mal, wenn die als Kind geheult hat, dieses Ding aufgesetzt und sie dann in einen Schrank gesperrt. So hat's ihr Vater mit ihr auch gemacht. Deshalb fand sie es ganz in Ordnung.«
Sarah wartete, aber Ruth schwieg. »Das war grausam«, murmelte sie.
»Ja. Aber Großmutter war stärker als Mama, und außerdem konnte man damals, als Großmutter noch klein war, mit Kindern machen, was man wollte. Zur Strafe die Schandmaske aufgesetzt zu kriegen, war auch nicht viel anders als mit dem Gürtel versohlt zu werden. Aber für meine Mutter war es grauenhaft.« Sie trat ihre Zigarette aus. »Es war kein Mensch da, der sie beschützt hat. Großmutter konnte jederzeit mit ihr tun, was sie wollte.«
Sarah überlegte, was das Mädchen ihr sagen wollte. »Diesem Problem begegnet man leider immer häufiger. Männer unter Druck lassen ihre Wut an ihren Frauen aus. Frauen unter Druck lassen ihre Wut an ihren Kindern aus. Und nichts ist belastender für eine Frau, als alles allein ausbaden zu müssen.«
»Wollen Sie etwa entschuldigen, was meine Großmutter getan hat?« Ruths Blick war argwöhnisch.
»Keineswegs. Ich versuche vielleicht, es zu verstehen. Viele Kinder in der Situation, in der Ihre Mutter war, sind seelischer Misshandlung ausgesetzt, und das ist oft genauso schlimm wie körperliche Misshandlung, schon allein deshalb, weil die Wunden nicht zu sehen sind und keiner außerhalb der Familie etwas davon ahnt.« Sie zuckte die Achseln. »Aber das Resultat ist das gleiche. Das Kind ist genauso unterdrückt und genauso geschädigt. Kaum jemand hat die Kraft, ständige Kritik von einem Menschen, von dem er abhängig ist, heil zu überstehen. Entweder man duckt sich oder man k ämpft. Einen Mittelweg gibt es nicht.«
Ruth sah zornig aus. »Meine Mutter hat beides abbekommen, seelische und körperliche Misshandlung. Sie haben keine Ahnung, wie gemein meine Großmutter zu ihr war.«
»Das tut mir leid«, sagte Sarah hilflos. »Aber wenn es stimmt, dass auch Mathilda als Kind brutal bestraft worden ist, dann ist sie ebenso ein Opfer wie Ihre Mutter. Aber das ist Ihnen wahrscheinlich kein Trost.«
Ruth z ündete sich eine frische Zigarette an. »Oh, verstehen Sie mich nicht falsch«, sagte sie und verzog ironisch den Mund. »Ich habe meine Großmutter geliebt. Sie hatte wenigstens Charakter. Der fehlt meiner Mutter völlig. Manchmal hasse ich sie. Die meiste Zeit verachte ich sie.« Sie blickte stirnrunzelnd zu Boden und stieß mit einer Schuhspitze den Staub auf. »Ich glaube, dass sie Großmutter umgebracht hat, und ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll. Einerseits nehme ich es ihr furchtbar übel und andererseits wieder nicht.«
Sarah ging nicht gleich auf die Bemerkung ein, weil sie gar nicht wusst e, was sie darauf sagen sollte. Was für eine Beschuldigung war das? Eine echte Mordanklage? Oder der boshafte Seitenhieb eines verwöhnten Kindes auf eine ungeliebte Mutter? »Die Polizei ist überzeugt, dass es Selbstmord war, Ruth«, sagte sie schließlich. »Der Fall ist abgeschlossen. Soviel ich weiß, steht überhaupt nicht zur Debatte, ob eine fremde Person am Tod Ihrer Großmutter Anteil gehabt hat.«
»Ich meine ja auch gar nicht, dass meine Mutter es wirklich getan hat«, erwiderte sie. »Dass sie das Messer genommen und es getan hat. Ich meine, dass sie Großmutter zum Selbstmord getrieben hat. Das ist genauso schlimm.« Ihre Augen glänzten verdächtig, als sie den Kopf hob. »Finden Sie nicht auch, Doktor Blakeney?«
»Vielleicht. Wenn so etwas möglich ist. Nach dem, was Sie mir über die Beziehung Ihrer Mutter zu Mathilda erzählt haben, erscheint es unwahrscheinlich. Es wäre plausibler andersherum - dass Mathilda Ihre Mutter in den Selbstmord getrieben hätte.« Sie lächelte entschuldigend. »Trotzdem, so etwas kommt äußerst selten vor, und wenn ein Mensch im Selbstmord die einzige Möglichkeit sieht, eine schwierige Beziehung zu lösen, dann müsste bei ihm seit langem eine ernste seelische Störung vorliegen.«
Aber so leicht lie ß sich Ruth nicht beirren. »Sie verstehen nicht«, entgegnete sie. »Die beiden
Weitere Kostenlose Bücher