Die Schandmaske
weshalb er sie überhaupt geheiratet hatte.«
»Geld«, sagte Sarah mit Nachdruck.
»Ja, das wird es wohl gewesen sein«, stimmte Jane zu. »Er war typischer armer Landadel, hatte nichts als seinen Namen, und Mathilda war schön, genau wie Joanna. Es war eine Katastrophe. James kam sehr schnell dahinter, dass es auf der Welt Dinge gibt, die schlimmer sind als Armut. Und sich von einem zänkischen Weib wie Mathilda herumkommandieren zu lassen, war eines davon. Er hat sie gehasst.«
Eine der Nachrichten, die Sarah auf ihrem Schreibtisch erwarteten, war von Ruth Lascelles, ein kurzes Briefchen, das sie vermutlich am Abend zuvor eingeworfen hatte. Sie hatte f ür ein Mädchen von siebzehn oder achtzehn eine erstaunlich kindliche Schrift. »Liebe Dr. Blakeney, könnten Sie mich bitte morgen (Freitag) im Haus meiner Großmutter aufsuchen. Ich bin nicht krank, aber ich würde gerne mit Ihnen sprechen. Ich muss Sonntagabend wieder in der Schule sein. Ich danke Ihnen im Voraus, Ihre Ruth Lascelles.«
Au ßerdem lag ein Zettel da, der besagte, dass Sergeant Cooper angerufen hatte. »Sergeant Cooper hat heute Morgen gehört, dass Sie gestern angerufen haben. Meldet sich sp äter am Tag bei Ihnen.«
Es war fast drei Uhr, als Sarah endlich Zeit f ür den Besuch im Cedar House fand. Sie fuhr die kurze kiesbestreute Auffahrt hinauf und parkte vor den Fenstern des Esszimmers, die auf der linken Seite des Hauses zur Straße hinausgingen. Das Haus war ein georgianischer Bau aus gelb-grauem Stein, mit tiefen Fenstern und hohen Räumen. Viel zu groß für Mathilda, hatte Sarah immer gefunden, und sehr unpraktisch für eine Frau, die an schlechten Tagen so gut wie bewegungsunfähig war. Einziges Zugeständnis an ihre schlechte körperliche Verfassung war der Einbau eines Treppenlifts gewesen, der ihr zu jeder Zeit Zugang zum oberen Stockwerk erlaubte. Sarah hatte ihr einmal vorgeschlagen, zu verkaufen und in einen ebenerdigen Bungalow zu ziehen, worauf Mathilda geantwortet hatte, dass ihr so etwas nicht im Traum einfiele. »Meine liebe Sarah, nur die kleinen Leute wohnen in Bungalows, darum heißen sie immer Mon Repos oder Dunroamin. Ganz gleich, was man tut, man darf sich nie unter sein Niveau begeben.«
Ruth kam aus dem Haus, als sie ihre Wagent ür öffnete. »Gehen wir ins Sommerhaus«, sagte sie abrupt und eilte, ohne auf eine Antwort zu warten, um die Hausecke davon, den mageren, nur mit T-Shirt und Leggings bekleideten Körper im schneidenden Nordwind gekrümmt, der herbstliche Blätter über den Weg fegte.
Sarah, älter und anfälliger für die Kälte, nahm ihre lange Barbour-Jacke vom Rücksitz und folgte. Aus einem Augenwinkel sah sie flüchtig Joanna, die sie aus den dunklen Tiefen des Esszimmers beobachtete. Hatte Ruth ihrer Mutter gesagt, dass sie Sarah um einen Besuch gebeten hatte, fragte sich Sarah, als sie hinter dem jungen Mädchen über den Rasen ging. Warum diese Geheimniskrämerei? Das Sommerhaus war gut zweihundert Meter von Joannas gespitzten Ohren entfernt.
Ruth war dabei, sich eine Zigarette anzuz ünden, als Sarah in das Häuschen mit seinen Art-deko-Möbeln trat, Relikte aus einer früheren - glücklicheren? - Zeit. »Sie halten mir jetzt bestimmt als erstes einen Vortrag«, sagte sie mit finsterer Miene, zog die Tür zu und ließ sich auf einen Stuhl fallen.
»Worüber?« Sarah nahm sich ebenfalls einen Stuhl und zog ihre Jacke über ihrer Brust zusammen. Es war bitterkalt, selbst bei geschlossenen Türen.
»Weil ich rauche.«
Sarah zuckte die Achseln. »Es ist nicht meine Art, Vorträge zu halten.«
Ruth starrte sie skeptisch an. »Ihr Mann hat erzählt, dass meine Großmutter Sie manchmal ihre kleine Schandmaske genannt hat.
Das h ätte sie doch bestimmt nicht getan, wenn Sie sie nicht wegen ihrer Meckerei angemacht hätten.“
Sarah sah durch das Fenster zum langen Schatten der m ächtigen libanesischen Zeder hinaus, die dem Haus seinen Namen gegeben hatte. Noch während sie hinsah, trieb der böige Wind eine Wolke über die Sonne und löschte den Schatten aus. »So war unsere Beziehung nicht«, sagte sie, sich wieder dem jungen Mädchen zuwendend. »Ich war gern mit Ihrer Großmutter zusammen. Ich kann mich nicht erinnern, dass es je einen Anlass gegeben hat, ihr irgendwelche Vorhaltungen zu machen.«
»Also, mir hätte es nicht gefallen, als Schandmaske bezeichnet zu werden.«
Sarah l ächelte. »Ich fand es schmeichelhaft. Ich glaube, es war als Kompliment gemeint.«
»Das bezweifle
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