Die Schandmaske
das mittlere Dreieck des Prismas, das noch leer war. »Da kommt die wahre Joanna hin, in den einzigen Spiegel, der ihr stilisiertes Bild von sich selbst nicht zurückwerfen kann.«
Sehr durchdacht, sagte sich Sarah, aber war es zutreffend? »Und wie ist die wahre Joanna?«
Er starrte auf das Bild. »Absolut skrupellos, glaube ich«, antwortete er langsam. »Absolut skrupellos, wenn es darum geht, ihren eigenen Willen durchzusetzen.«
Die K üchentür war abgeschlossen, aber der Schlüssel, den Mathilda unter dem dritten Blumentopf rechts versteckt hatte, war noch da. Sarah nahm ihn mit einem unterdrückten Schrei des Triumphs und schob ihn in das Yaleschloss. Erst als sie die Tür geöffnet und den Schlüssel herausgezogen hatte, um ihn auf den Küchentisch zu legen, fragte sie sich, ob jemand der Polizei gesagt hatte, dass es so einfach war, ins Haus zu kommen, wenn man von dem hinterlegten Schlüssel wusste. Sie selbst hatte es nicht erwähnt; sie hatte den Schlüssel bis zu diesem Moment, als ihr Wunsch, ins Haus zu kommen, ihr Gedächtnis auf Trab gebracht hatte, vergessen. Sie hatte ihn nur einmal benützt, vor Monaten, als Mathildas Arthritis so schlimm gewesen war, dass sie es nicht geschafft hatte, aus ihrem Sessel aufzustehen und zur Haustür zu kommen.
Vorsichtig legte sie den Schl üssel auf den Tisch und blickte nachdenklich auf ihn hinunter. Die Intuition sagte ihr, dass die Person, die den Schlüssel zuletzt benutzt hatte, Mathilda Gillespie getötet hatte, und es bedurfte keiner geistigen Anstrengung, sich klarzumachen, dass sie eventuelle Fingerabdrücke dieser Person soeben durch ihre eigenen ausgelöscht hatte. »Ach, du lieber Gott«, sagte sie bedrückt.
»Wie können Sie sich unterstehen, ohne Aufforderung in mein Haus zu kommen«, zischte Joanna von der Tür zur Diele her.
Sarah sah sie so grimmig an, dass sie unwillkürlich einen Schritt zurückwich. »Kommen Sie endlich runter von Ihrem hohen Ross und werden Sie vernünftig«, fuhr Sarah sie an. »Wir sitzen alle bis zum Hals in der Scheiße, und Sie tun nichts, als auf Ihrer verdammten Würde zu bestehen.«
»Lassen Sie diese Kraftausdrücke. Ich hasse das. Sie sind ja schlimmer als Ruth. Sie sind keine Dame. Ich verstehe nicht, was meine Mutter an Ihnen fand.«
Sarah holte zornig Luft. »Sie phantasieren, Joanna. Was glauben Sie denn, in welchem Jahrhundert Sie leben? Und was ist eine Dame? Jemand wie Sie, der in seinem ganzen Leben nie einen Finger gerührt hat, dafür aber auch keine Kraftausdrücke gebraucht?« Sie schüttelte den Kopf. »Für mich ist das kein Kriterium. Ich kenne eine wahre Dame. Sie ist siebenundachtzig Jahre alt und arbeitet mit den Obdachlosen in London und flucht wie ein Stallknecht. Machen Sie endlich die Augen auf. Respekt erwirbt man sich durch den Beitrag, den man zum gesellschaftlichen Zusammenleben leistet, nicht durch verbissenes Festhalten an irgendeinem überholten Prinzip weiblicher Reinheit, das an dem Tag aus der Mode kam, als Frauen entdeckten, dass sie nicht zu einem Leben endloser Schwangerschaft und Kindererziehung verdammt sind.«
Joanna kniff die Lippen zusammen. »Wie sind Sie hereingekommen?«
Sarah deutete auf den Tisch »Mit dem Schlüssel, der unter dem Blumentopf lag.«
»Mit welchem Schlüssel?« fragte Joanna ärgerlich.
»Mit dem da, und rühren Sie ihn auf keinen Fall an. Ich bin sicher, dass die Person, die Ihre Mutter getötet hat, ihn benutzt hat. Kann ich mal telefonieren? Ich will die Polizei anrufen.« Sie drängte sich an Joanna vorbei in den Flur. »Und Jack muss ich auch noch anrufen, um ihm zu sagen, dass ich später komme. Haben Sie was dagegen?«
Joanna eilte ihr nach. »Ja, ich habe etwas dagegen. Sie haben kein Recht, hier einzudringen. Das ist mein Haus, und ich will Sie hier nicht sehen.«
»Nein«, entgegnete Sarah kurz und griff gleichzeitig zum Telefon auf dem Tisch im Vestibül, »dem Testament Ihrer Mutter gemäß gehört das Cedar House mir.« Sie blätterte in ihrem Büchlein nach Coopers Telefonnummer. »Und Sie sind nur noch hier, weil ich Sie nicht einfach hinauswerfen wollte.« Sie hielt den Hörer an ihr Ohr und wählte die Nummer der Polizeidienststelle Learmouth, ohne Joanna aus den Augen zu lassen. »Aber ich kann nicht anders. Ich sehe keinen Grund, warum ich für Sie mehr Verständnis haben sollte, als Sie für Ihre eigene Tochter haben. - Sergeant Cooper, bitte. Sagen Sie ihm, Dr. Blakeney ist am Apparat, und es ist dringend. Ich bin im
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