Die scharlachrote Spionin
wohlbehütetes Geheimnis waren. Die vagen Gerüchte über die früheren Heldentaten des Marquis' reichten aus, um einem Mann die Haare zu Berge stehen zu lassen. Obwohl Lynsley inzwischen die meiste Zeit am Schreibtisch verbrachte, war Osborne überzeugt, dass er mit gänzlich anderen Dingen beschäftigt war als nur damit, Papiere hin und her zu schieben.
»Ich frage mich ... ob Sie vielleicht interessiert wären, uns in noch anderer Weise auszuhelfen?« Im Spiel von Licht und Schatten war es unmöglich, die Miene des Marquis zu erkennen. »Es geht allerdings nicht um eine militärische Expertise.«
»Vielleicht«, erwiderte Osborne und bemühte sich ebenfalls um einen unlesbaren Gesichtsausdruck. »Natürlich würde ich gern hören, was Sie im Sinn haben.«
»Eine diplomatische Antwort.« Kein Zweifel, Lynsleys Lippen hatten gezuckt. »Es handelt sich um eine recht einfache Angelegenheit, in der Tat, besonders für einen Gentleman Ihres Ranges in der Stadt. Sie würden mir einen großen Gefallen tun, wenn Sie eine italienische Gräfin in die Gesellschaft einführen würden. Bei der Lady handelt es sich um eine wohlhabende junge Witwe, die hier in London niemanden kennt.«
»Und Sie wünschen, dass sie in die Salons eingeführt wird«, ergänzte Osborne bedächtig, »dass sie zu allen Abendgesellschaften eingeladen wird. Und auch in die Runde der vormittäglichen Aufwartungen.«
»Genau. Meine nächsten Verpflichtungen erlauben es mir leider nicht, die Aufgabe selbst zu übernehmen.«
»Scheint tatsächlich so, als handelte es sich um eine leichte Aufgabe.« Viel zu leicht. Gemessen an der Aura des Geheimnisvollen, die den Marquis umschwebte, vermutete Osborne, dass Lynsley den wichtigeren Teil des Arrangements unausgesprochen ließ. Aber trotz der Fragen, die ihm plötzlich durch den Kopf wirbelten, bemerkte er nur: »Ist sie hübsch?«
»Sehr sogar«, erwiderte Lynsley.
»Das sollte es noch einfacher machen. Ich werde ...«
»Ah, Osborne, da sind Sie ja!« Zwei Gentlemen in Uniform winkten ihn zu sich heran. »Kommen Sie, und helfen Sie uns, den Streit zu schlichten, wer besser mit der Pistole umgehen kann. Manton oder Purdey, dieser Emporkömmling.«
»Verzeihen Sie, aber Captain Tolliver wird sich mit einer Ablehnung nicht zufriedengeben«, meinte Osborne sanft, »ich sollte lieber gehen, bevor die beiden sich halb tot schießen und Lady Havertons Abend ruinieren.«
»Vielleicht sollten Sie in Erwägung ziehen, eine Stellung im auswärtigen Dienst anzutreten«, murmelte der Marquis. »Denken Sie mal darüber nach ...«
»Nicht nötig.« Osborne leerte sein Glas und stellte es beiseite. »Wann möchten Sie, dass ich die Lady kennenlerne?«
»Übermorgen. Wenn es Ihnen recht ist, treffen wir uns um zwei Uhr im White's.«
»Großartig.« Eine kleine Abwechslung im Alltag mochte genau das sein, was er brauchte, um seine schlechte Stimmung loszuwerden.
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3. Kapitel
S chreiten Sie nicht so weit aus, meine Liebe!«, mahnte Mrs. Merlin leise. »Eine Lady gibt sich niemals den Anschein, in Eile zu sein.«
»Verzeihung.« Sofia schluckte einen Seufzer hinunter, während sie noch eine Runde durch den Salon in der Akademie drehte. »Ich gebe mir Mühe, nicht noch einmal zu stolpern.«
Die Direktorin lächelte. »Das machen Sie sehr gut.«
»Si, si, bella.« Marco beobachtete sie mit offenkundiger Anerkennung. »Heb das Kinn einen Hauch höher, und dann solltest du noch eine Spur arroganter lächeln ... Ja, genau so. Jetzt siehst du so hoheitsvoll aus wie eine echte Contessa.«
»Du siehst aber auch recht anständig aus«, gab sie zurück. Das gestärkte Halstuch bildete einen reizvollen Kontrast zu seinem gebräunten Teint, und die maßgeschneiderte Eleganz seines Abendanzugs betonte die breiten Schultern und die schmale Taille. Sogar das Haar war ihm geschnitten worden, obwohl es immer noch bis fast auf die Schultern reichte. Sofia musste zugeben, dass der Anblick bestechend war. »In der Tat, ich bin überzeugt, dass du dich sogar noch besser tarnen kannst als ich.«
»Was macht dich so sicher, dass ich nur Theater spiele?«, fragte er und vollführte eine tiefe Verbeugung.
Sofia brach das Gelächter mit einer leichten Unsicherheit ab. Die Lehrer an der Akademie bestanden aus einer früheren Kurtisane König Carlos', einem verurteilten Falschspieler, einem dunkelhäutigen Boxer und einem indischen Yoga-Guru. Man musste seine
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