Die scharlachrote Spionin
hast mich mit voller Absicht hintergangen.«
»Die Kunst der Tarnung und Täuschung gehört zu den Grundlagen des Unterrichts an der Akademie. Beides muss uns so vertraut sein wie eine zweite Haut, wenn wir unserem Zweck dienen wollen.« Mrs. Merlin musterte Sofia aufmerksam. »Es war Lord Lynsleys Wunsch, Marcos wahre Identität geheim zu halten. Aber weil er seit seinem Studium in Genf mit einem unserer Verdächtigen bekannt ist, haben wir beschlossen, dass seine Anwesenheit nützlich sein könnte, um Ihre Mission erfolgreich enden zu lassen. Wenn es Ihnen Schwierigkeiten bereitet, Sofia, dann äußern Sie sich bitte auf der Stelle.«
Sofia atmete tief durch und zwang sich, ihr Temperament zu zügeln. »Nein, es bereitet mir keinerlei Schwierigkeiten«, erwiderte sie. »Selbstverständlich haben Sie recht. Es hat mich nur überrascht, dass ein Freund ... Es wird nicht wieder vorkommen.«
»In unserer Welt gibt es keine Freundschaft«, mahnte Mrs. Merlin. »Nur ein einziges Gefühl ist gestattet, und zwar eine leidenschaftslose Hingabe an die Pflicht.«
»Der Fehler wird nicht noch einmal vorkommen.«
Einen Moment lang hörte man nichts als das Ticken der Uhr im großen Kasten. Sofia saß auf dem Sofa und rührte sich nicht, hielt das Rückgrat kerzengerade und fragte sich, wie teuer ihr Fehltritt sie wohl zu stehen kommen würde. Vielleicht überlegte Mrs. Merlin gerade, wie oft sie gegen die Regeln der Akademie verstoßen hatte, um ihre Zimmergenossinnen vor Ärger zu bewahren. Solche Treue würde man zweifellos für eine Schwäche halten und nicht für eine Stärke.
In Sofias Ohren klang das Rascheln des Papiers beinahe so laut wie Kanonendonner. Die Direktorin beugte sich vor; das Licht blitzte auf ihr Lorgnon. »Lassen Sie sich das eine letzte Lektion sein, Sofia! Sie dürfen niemals in Ihrer Wachsamkeit nachlassen.«
Ihre Muskulatur entspannte sich kaum merklich. Sofia gestattete sich ein Lächeln. »Ich werde weder Sie noch Lord Lynsley enttäuschen.«
Mrs. Merlin überflog ihre Notizen, schaute auf. »Es kann nicht schaden, wenn wir die letzten Minuten nutzen, um den Auftrag noch einmal durchzugehen. Zuerst werden Sie dafür sorgen, dass Sie in den höchsten Kreisen der Gesellschaft willkommen geheißen werden. Sie sind ...«
»... Contessa Sofia Constanza Bingham della Silveri«, rezitierte Sofia. »Mein Vater war ein jüngerer Sohn Lord Whalleys, der als englischer Emigrant in Rom gelebt und dort eine italienische Baronin geheiratet hat. Ich war mit einem venezianischen Adligen verheiratet, der vor gut einem Jahr verstorben ist. Das Trauerjahr habe ich gerade hinter mir gelassen und verspüre jetzt den Wunsch, das Land kennenzulernen, in dem mein Vater geboren wurde.« Sie hielt inne. »Ich nehme an, dass all diese Leute tatsächlich existieren, denn schließlich gehören mehrere Italiener zu der Gruppe, die ich infiltrieren soll.«
»Natürlich«, erwiderte Mrs. Merlin, »Mr. Bingham und seine Frau sind vor vielen Jahren verstorben. Ihre einzige Tochter, die, aber das nur nebenher, in einem Kloster auf Sizilien lebt, ist ihren englischen Verwandten noch niemals begegnet. Und was Ihren verstorbenen Ehemann betrifft: Er war ein notorischer Einsiedler und hat seine junge Braut in den wenigen Monaten, die die Ehe nur dauerte, von der venezianischen Gesellschaft abgeschirmt. Anschließend ist sie mit ihrem Gärtnermeister nach Griechenland durchgebrannt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ihnen wegen Ihrer Herkunft unangenehme Fragen gestellt werden. Aber falls doch ...«
»Falls doch, muss ich improvisieren«, ergänzte Sofia.
»Ausgezeichnet. Und natürlich wird Marco Ihre Geschichte beglaubigen. Ein oder zwei Tage nach Ihrer Ankunft wird auch er in London auftauchen und im Pulteney Hotel eine Unterkunft beziehen.« Mrs. Merlin blätterte um. »Sobald Sie in die Londoner Gesellschaft aufgenommen sind, ist es Ihre Aufgabe, freundschaftliche Beziehungen zu einer Gruppe Gentlemen zu pflegen, die sich selbst Scarlet Knights nennt. Die scharlachroten Ritter.«
Die Direktorin warf einen Blick auf Marco. »Auch hier wird der Conte helfen, indem er die nötigen Bekanntschaften stiftet.«
Sofia wich seinem Blick aus. »Wissen wir schon, wie der Mann heißt, der für meine Aufnahme in die Salons sorgt?«
»Noch nicht.«
»Es ist auch gleichgültig. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich ihn noch oft zu Gesicht bekommen werde, wenn ich die erste Runde Festlichkeiten hinter mich gebracht habe.« Rasch
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