Die scharlachrote Spionin
keine Ahnung habe, wer ich in Wirklichkeit bin. Das macht es einfacher, sich als Chamäleon zu fühlen.«
Für den Bruchteil einer Sekunde zog Lynsley die Brauen hoch, wechselte dann aber sanft das Thema. »Wie würden Sie Ihren ersten Eindruck von Lord Osborne beschreiben?«
Gefährlich. Aber weil sie sich ziemlich dumm vorgekommen wäre, ihr Gefühl laut auszusprechen, formulierte sie ihre Antwort etwas umsichtiger. »Er entsprach nicht ganz meinen Erwartungen«, erwiderte sie.
Es schien, als würde er ihr zuzwinkern. »Zweifellos haben Sie geglaubt, ich würde einen Kerl auswählen, der so alt ist wie ich selbst.«
»Nein! Das heißt ...«, stammelte Sofia, während ihr die Röte in die Wangen schoss, »... Ihre alten Tage sind noch lange nicht angebrochen, Sir. Marco behauptet, dass Sie immer noch in der Lage sind, uns alle beim Pferderennen zu schlagen.«
Lynsley lachte. »Er hat nicht vergessen, wer seine Rechnungen bezahlt.«
»Es hörte sich vielmehr so an, als wäre der Kerl auf das Geld der Akademie gar nicht angewiesen.«
»Der Conte della Ghiradelli steht unter dem Befehl, seine Identität strikt geheim zu halten.«
Sofia senkte den Blick. »Ich hatte nicht die Absicht, Ihre Autorität infrage zu stellen, Sir. Sämtliche Merlins wissen, dass wir unserem Land nur dann nützen können, wenn wir diskret und verdeckt arbeiten.«
»Unter anderem«, murmelte Lynsley.
»Aber Sie hatten nach Lord Osborne gefragt, nicht nach Lord Marco«, warf Sofia rasch ein, »ich hatte nur anmerken wollen, dass er sich Ladys gegenüber sehr aufmerksam zu benehmen scheint. Ich hoffe, dass er sich nicht abhalten lässt, seine Pflichten so zu erledigen, wie Sie es von ihm erwarten.«
»Ah, Sie befürchten also, dass seine amourösen Aufmerksamkeiten unsere Pläne durchkreuzen könnten?« Lynsley presste die Fingerspitzen aneinander und richtete den Blick an die Rosette an der Decke. »Alle meine Informationen deuten darauf hin, dass Osborne darauf achtet, jeden mit seinem Charme zu bedenken. Er achtet geflissentlich darauf, sich niemals ernsthaft auf eine Lady einzulassen, sodass wir in dieser Hinsicht mit keinerlei Schwierigkeiten zu rechnen haben.«
Die Röte auf ihren Wangen verstärkte sich. »Ich habe nicht andeuten wollen, dass der Gentleman mich unwiderstehlich findet. Es liegt auf der Hand, dass seine Flirtereien nicht mehr sind als eine Spielerei. Ich ...« Sie zögerte, war unsicher, was sie eigentlich sagen wollte. »Ich muss feststellen, dass ich so gut wie nichts über die Salons weiß. Wenn Sie also zuversichtlich sind, dass Osborne es richtig machen wird, dann werde ich mich ganz sicher Ihrem Urteil anschließen, Sir.«
»Die Angelegenheit soll uns nicht mehr als zwei Wochen oder so in Anspruch nehmen. Schon bald werden Sie sich selbst ein Urteil bilden können. Die Ladys werden natürlich nicht gerade jubeln, eine neue Schönheit in ihren Reihen willkommen heißen zu müssen, aber sie werden es auch nicht wagen, mit Einladungen zu geizen. Denn dann müssten sie befürchten, dass andere Gastgeberinnen - und all die Gentlemen unter sechzig - sich zuerst glücklich schätzen können, dass Sie deren Ballsaal schmücken.« Der Marquis hielt kurz inne und blickte sie noch ernsthafter an. »Sofia, Sie sollten Ihren eigenen Charme nicht unterschätzen. Die Männer werden Ihre Schönheit garantiert unwiderstehlich finden - und glauben, leichtes Spiel zu haben, schließlich ist die Contessa Witwe. Es wird Ihnen große Geschicklichkeit abverlangen, die Gelüste der Männer in Ihren eigenen Vorteil zu verwandeln. Der Erfolg der Mission hängt allein von Ihren Fähigkeiten ab.«
»Die Unterrichtsstunde in der Kunst der Verführung hat immer genau vor der Selbstverteidigung stattgefunden«, witzelte sie, »ganz gleich, ob das Duell mit Worten oder mit Stahl geführt wird, ich werde mich zu behaupten wissen.«
»Wenn ich nicht fest daran glauben würde, wären Sie nicht hier.«
»Danke, Sir.« Der Marquis hatte recht. Sie würde Osborne nicht besonders lange in Anspruch nehmen müssen. Was angesichts ihrer merkwürdigen Reaktion auf seine Anwesenheit sicher auch das Beste war. »Mrs. Merlin erwähnte, dass Sie ihren Erläuterungen vielleicht noch ein paar Einzelheiten hinzuzufügen hätten.«
»Nur noch ein einziges Detail. Es ist allerdings entscheidend.« Er zog das Taschentuch aus seiner Tasche und rollte es langsam auf. »Das hier lag versteckt in der Bindung des Tagebuchs von Lord Robert.«
Aufmerksam
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