Die scharlachrote Spionin
verließ er das Zimmer, humpelte leicht. Geschieht ihm recht!, dachte Sofia. Was mischt er sich auch in Angelegenheiten ein, die ihn rein gar nichts angehen? Aber andererseits hatte Osborne ihr als unfreiwilliger Verbündeter gedient und geholfen, Concord und De Winton abzulenken. Mit seinen leidenschaftlichen Küssen hatte er ihr einen riesigen Gefallen getan. Sonst wäre die Sache nicht so glimpflich verlaufen.
Sofia biss sich auf die Lippe und schaute sich um. Verdammt, es war riskant. Aber trotzdem musste sie die Tabaksdose zurückbringen. Dass sie den Zettel gelesen hatte, der in der Dose verborgen war, machte ihre Aufgabe noch dringlicher. Die Schlüsselbesitzer durften nicht wissen, dass sie die Liste kannte. Auf der Liste fanden sich die Namen einiger Lieferanten, die sie an Lynsley weitergeben würde, sodass er mit seinen Ermittlungen beginnen konnte. Nur ... eigentlich brauchte sie etwas ganz anderes - nämlich die Namen der Verschwörer. Und Beweise ihrer Verschlagenheit. Bis dahin durfte sie diesen Leuten keinerlei Anlass bieten, die italienische Contessa unter Verdacht zu stellen.
Im Korridor rührte sich nichts außer dem flackernden Kerzenlicht an den Wänden. Aus keinem Zimmer drang irgendein Laut. Sie wartete noch ein paar Sekunden, überzeugte sich, dass sie tatsächlich allein war, und öffnete leise die Tür zum Arbeitszimmer.
Es dauerte nur wenige Augenblicke, die goldene Dose unten in der Schublade zu verstauen. Nachdem sie die Lade wieder mit der Stahlnadel verschlossen hatte, lupfte sie die Röcke an und eilte auf demselben Weg wieder zurück.
Rein und raus. Genauso, wie der frühere Juwelendieb in der Akademie es gelehrt hatte.
Aber in ihrer Hast, das Zimmer zu verlassen, übersah Sofia, dass sie mit den Seidenröcken ein Stückchen Papier unter den Tisch fegte.
Aus unbegreiflichen Gründen trieb Osborne sich auf dem Bürgersteig herum, anstatt zur Ecke zu eilen, wo er eine vorbeifahrende Kutsche hätte anhalten können. Der Nebel war noch dichter geworden, kroch ihm eiskalt den Nacken hinunter. Er fröstelte.
Andererseits war es immer so, dass der Gedanke an Lady Sofia das Gefühl verursachte, als würden Dolchspitzen über seine Haut tanzen.
Er drehte sich um und machte sich auf den Weg. Aber nach ein paar Schritten wurde ihm bewusst, was er vermisste: Die Kutsche der Lady war nirgendwo zu sehen. Obwohl er deutlich gehört hatte, wie sie sich von der Gruppe im Salon verabschiedet hatte, während er durch eine Seitentür im Haus verschwunden war. Osborne zögerte, drehte sich noch einmal um und schritt leise über das Kopfsteinpflaster. Die Straße lag dunkel, verlassen, als er im Torbogen des benachbarten Gartens Stellung bezog.
Vielleicht hatte sie andere Pläne. Eine erotische Begegnung. Noch einen heimlichen Diebstahl. Nein, es ging ihn nichts an. Und doch ... die Neugier ließ ihn an seinem Platz verharren.
Er musste nicht lange warten. Schon bald wurde die Tür des Stadthauses geöffnet, und Lady Sofia - unverkennbar in ihrem modisch geschnittenen Scharlach-Umhang mit Kapuze - trat die Marmorstufen hinunter. Sie war allein. Als sie in der Parkbucht angekommen war, schaute sie in beide Richtungen. Es schien offensichtlich, dass sie nicht mit der Abwesenheit der Pferde und ihres Kutschers gerechnet hatte.
Sie wartete einen Moment, eine schmale Silhouette im silbrigen Mondlicht, und wandte sich dann in die Gasse, die zu den Stallungen führte. Osborne folgte ihr auf dem Fuße, hielt sich dicht an der Gartenmauer. Die Contessa war gerade im Begriff, in die Schatten zu tauchen, als er aus den Augenwinkeln eine plötzliche Bewegung in einer Seitenstraße erhaschte.
Ein Haufen Männer tauchte aus dem Nebel auf, rannte schnell, aber leise über das glitschige Pflaster.
Straßenräuber.
Osborne rief ihr eine Warnung zu, rannte in die Gasse und drückte Sofia an eine Mauer. »Zurückbleiben!«, befahl er und straffte sich, um den Angriff abzuwehren. Vier gegen einen. Nicht die besten Chancen, besonders deshalb nicht, weil er unbewaffnet war. Er klammerte die Finger fester um seinen Spazierstock und brachte sich in Verteidigungsstellung. Genau wie die Meute hatte er nicht die Absicht, fair zu kämpfen.
»Rennen Sie, Lady Sofia!«, schnaubte er, »Laufen Sie zu den Ställen oder raus auf die Queen Street!« Weil sie rings von Gartenmauern umgeben waren, war die Wahrscheinlichkeit sehr gering, dass ihre Hilfeschreie gehört wurden.
Der Anführer der Straßenräuber verlangsamte den
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