Die Schatten der Vergangenheit
Revolver auf. »Wer, zum Teufel, sind Sie?«, fragte er.
Bens Augen verengten sich, und ich dachte schon, er würde Franc erschießen.
»Dad, darf ich dir meinen Großvater vorstellen. Franc, darf ich vorstellen: mein Vater.«
»Lass das!«, schrie Ben.
Ich fuhr zusammen und zog eine Grimasse.
»Nicht. Keine Scherze, bitte«, sagte er in sanfterem Ton. »Ich habe dich mit dem Messer verletzt und du, du tust so, als …« Er schluckte und fasste sich dann. »Ich hole jetzt einen Notarzt, und wenn ich zurückkomme, erklärt mir jemand ganz schnell, was, verdammt noch mal, hier eigentlich los ist!«
Er reichte mir den Revolver. »Kommst du klar?«
Ich nickte. Er strich mir das Haar aus der Stirn, und weg war er, stürmte schon durch die Bäume. Ich hatte immer noch seinen Gesichtsausdruck vor Augen. Ich hatte ihm einen Heidenschreck eingejagt. Angst und Schock hatten ihm die Farbe aus dem Gesicht getrieben, und seine Hand hatte stark gezittert. Als ich ihn nicht mehr hören konnte, schrie ich mir die Verzweiflung aus dem Leib. Jetzt, da er wusste, was ich war, würde er mich bestimmt hassen?
»Er hatte keine Ahnung, was es mit dir auf sich hat«, sagte Franc verwundert.
»Wieso konntest du mich nicht in Ruhe lassen?«, fragte ich wütend.
Er schwieg. In der Ferne quietschten Reifen. Zu bald, alsdass es der Notarzt hätte sein können. Ich umklammerte den Revolver fester. Xavier erschien und half Franc auf. Binnen Sekunden waren sie im Wald verschwunden und steuerten auf die Straße zu.
Meine Energiereserven waren aufgebraucht, und ich legte mich flach auf den Boden.
»Remy?« Das war Lucy, die mich vom Waldrand aus rief. »Ist Dad bei dir?«
»Nein! Er ist nach Hause zurückgerannt, um Hilfe zu holen!«
Es klang, als befände sich Lucy in der Nähe des Hauses. Sie hätte Ben begegnen müssen.
Auf der Straße wurde ein Motor angelassen, und ein Auto fuhr an. Ich hörte es mit halbem Ohr.
»Ben!« Das war Laura, die da rief. Ich rappelte mich auf und sah, dass Asher es mir gleichtat. Etwas lief ganz furchtbar schief.
Ein lautes Geräusch, das im Wald widerhallte, war zu hören. Bei ihrer Flucht hatten die Beschützer vermutlich etwas angefahren. Ich blickte zu Asher, und in seinen Augen spiegelte sich mein Entsetzen wider.
Und dann zerriss Lucys Schrei die Abendluft und zertrümmerte, was von meiner Welt noch übrig war.
»Lucy, wir müssen los.«
Wir hatten die erste Woche Tag und Nacht im Krankenhaus verbracht.
Maschinen und Schläuche hielten Laura am Leben, und wir hatten Angst, sie zu verlassen. Lucy und ich hielten an ihrem Bett Wache, aber sie kam einfach nicht zu Bewusstsein. Ein Schädel-Hirn-Trauma, das zum Koma geführt hatte. Ich hatte versucht, sie zu heilen, doch ohne Erfolg. Kopfwunden waren immer meine Nemesis gewesen. Auch meine Mutter hatte ich davon nicht heilen können.
Sobald die Ärzte Laura stabilisiert hatten, hatten wir ihre Verlegung unter neuem Namen in einem Chicagoer Krankenhaus in die Wege geleitet. Um sie besser vor den Beschützern verstecken zu können. Ich war mir nicht sicher, wie Asher das zuwege gebracht hatte, aber ich würde ihm dafür ewig dankbar sein. Wer wusste denn schon, wie viele Beschützer sich mittlerweile in Blackwell Falls tummelten?
Die Beschützer hatten Ben in ihrer Gewalt. Hatten ihn mit einer Waffe gezwungen, in ihr Auto zu steigen, und waren mit ihm davongejagt. Und dann – zufällig oder absichtlich? – hatten sie Laura angefahren, die sich ihnen in den Weg hatte stellen wollen. Lucy hattedas Ganze mitbekommen und nur traumatisiert vor sich hin starren können.
Inzwischen war allerdings eine Woche vergangen, und wir konnten es nicht mehr riskieren, noch länger bei Laura auszuharren. Die Beschützer oder mein Großvater würden hinter uns her sein, und wir brauchten ein sicheres Versteck. Überraschenderweise hatte Lottie uns angeboten, bei unserer Mutter zu bleiben. Als ich Asher darauf ansprach, sagte er nur: »Ihr könnt nicht bleiben, du und Lucy. Deine Mutter ist nicht transportfähig. Entweder bleibe ich oder Lottie.«
Vermutlich wollte Lottie einfach umgehen, sich in meiner Nähe aufhalten zu müssen. Was ich ihr nicht verübeln konnte. Folglich würden sie und Laura in Chicago bleiben, während Lucy, Asher und ich flohen.
Ich berührte meine Schwester an der Schulter und wünschte, ich könnte diesen verstörten Ausdruck in ihrem Gesicht zum Verschwinden bringen.
Lucy sah mit kummervollen Augen auf. »Ich kann sie nicht
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