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Die Schatten des Mars

Die Schatten des Mars

Titel: Die Schatten des Mars Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank W. Haubold
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Bruchteil einer Sekunde wurde der weiße Stoffstreifen breiter. Erleichtert und vollkommen erschöpft schloß sie die Augen. Was auch immer ihr zugestoßen war, sie würde damit fertigwerden ...
    Die Bewegung, so schwach sie auch war, entging der Psychologin ebensowenig wie die Andeutung eines Lächelns, das einen Augenblick lang über das schmale Gesicht der dunkelhaarigen Frau gehuscht war.
    Du schaffst es, dachte Rachel mit einem Gefühl der Zuneigung, dessen Intensität sie selbst überraschte. Du wirst es allen ze i gen.
    Die Psychologin sollte recht behalten. Der Erfolg hatte Lena neuen Mut gegeben. Wenn es ihr gelungen war, den Kopf zu bewegen, dann mußte das auch mit ihren Armen oder Beinen möglich sein. Sie mußte sich nur konzentrieren ...
    Daß ihre Bemühungen zunächst erfolglos blieben, entmutigte sie nicht, sondern stachelte ihren Ehrgeiz nur noch weiter an. Ein Bild war in ihr Bewußtsein zurückgekehrt, das erste. Sie sah sich selbst als junges Mädchen in einem weißgetünchten Raum mit ein paar Holzstangen an den Wänden. Sie übte eine Schrittfolge, immer die gleiche, zehn-, zwanzig-, fünfzigmal, ohne das geringste Anzeichen von Ungeduld. Beharrlich wie eine Ameise – Murawej. Das Wort gefiel ihr, und sie versuchte, es laut auszusprechen, brachte aber nur ein Flüstern zustande. Auch das Sprechen war wohl etwas, das sie noch üben mußte.
    Noch war das Dunkel zum Greifen nah – wie eine Höhle, in die sie sich jederzeit zurückziehen konnte, aber dort lauerten auch die Schatten, und so bemühte sich Lena weiter, ihren Muskeln und Nerven irgendeine Reaktion zu entlocken.
    Dabei entdeckte sie Seltsames: Immer wenn sie versuchte, die Füße auszustrecken oder die Zehen zu bewegen, vernahm sie ein leises Summen, begleitet von der irritierenden Empfindung einer Vibration. Das Phänomen erwies sich als reproduzierbar, war aber mit keiner Erfahrung ihres früheren Ichs in Einklang zu bringen. In gewisser Weise ähnelte es dem Gefühl, mit nackten Füßen auf das Gehäuse einer laufenden Maschine zu treten, aber auch das traf es nicht genau. Dennoch war das wohl besser als überhaupt keine Reaktion. Wenn Lena nicht so erschöpft gewesen wäre, hätte sie gewiß den Versuch unternommen, sich so weit aufzurichten, daß sie ihre Füße sehen konnte. Aber das lag bislang außerhalb ihrer Möglichkeiten. Wahrscheinlich gab es eine völlig harmlose Erklärung für ihre Wahrnehmungen. Jetzt mußte sie sich erst einmal ausruhen. Von irgendwoher aus dem Dunkel ihrer Erinnerungen kam der Satz: Der Morgen ist klüger als der Abend. So würde es sein ...
    »Mrs. Romanowa, können Sie mich verstehen? Mrs. Romanowa?«
    Schlaftrunken öffnete Lena die Augen und sah in eine fremdes Gesicht. Dunkle forschende Augen und ein Lächeln, das eine Spur zu zuversichtlich ausfiel, um aufrichtig zu wirken. E ine Ärztin, schoß es Lena durch den Kopf, ohne daß sie diese Vermutung hätte begründen können.
    »Wer sind Sie?« fragte sie auf Russisch. Ihre Stimme klang heiser, aber es war immerhin mehr als ein Flüstern.
    »Ich bin Dr. Rachel Weissenberg und würde mich gern ein wenig mit Ihnen unterhalten«, erwiderte die Besucherin in akzentfreiem Russisch. Allerdings paßten die Worte nicht zu ihren Lippenbewegungen. Wahrscheinlich benutzte sie ein Übersetzungsgerät.
    »Ich kann nicht«, versetzte Lena abweisend. Sie wollte nicht mit dieser Frau sprechen und auch mit niemandem sonst. Die Gründe dafür waren vielschichtig. Zum einen empfand sie ihre hilflose Lage als demütigend, zum anderen fürchtete sie sich vor dem, was sie möglicherweise erfahren könnte. Sie hatte nicht gut geschlafen in dieser Nacht. Bilder hatten sich in ihr Bewußtsein gedrängt, Orte und Gesichter, die ihr seltsam vertraut erschienen. Und hinter all dem hatten die Schatten gelauert, gestaltlose, erdrückende Wesenheiten, bereit, sich auf sie zu stürzen ...
    »Sie haben Angst, nicht wahr?« sagte die Frau.
    Lena nickte oder versuchte es zumindest.
    »Dann sollten wir uns heute auf das Wesentliche beschränken. Es wird ein paar Tage, vielleicht sogar Wochen dauern, bis Sie sich ohne fremde Hilfe bewegen können. Sie waren sehr lange ohne Bewußtsein. Die Stimulationstherapie hat zwar die Rückbildung Ihrer Muskeln verhindert, aber Sie müssen erst wieder lernen, wie man sie benutzt.«
    »Und warum kann ich kaum etwas fühlen?«
    »Aus ähnlichen Gründen. Ihr Bewußtsein hat sich gegen alle äußeren Reize abgeschottet, und ein Teil dieser

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