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Die Schatten des Mars

Die Schatten des Mars

Titel: Die Schatten des Mars Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank W. Haubold
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sah, oder zu sehen glaubte, weckte irgendeine Assoziation.
    Grün – wenigstens eine Farbe.
    Dort, wo sie eben noch gewesen war, gab es keine Farben, nur verschiedene Nuancen von Grau – und die Schatten. Wen oder was sie darstellten, wußte Lena nicht mehr genau, nur, daß sie sich vor ihnen gefürchtet hatte. Vielleicht stellten sie auch gar nichts dar, waren einfach nur vorhanden wie dieses Grün, das ihren Augen jetzt nicht mehr wehtat.
    Was mochte das sein? Eine Decke? War sie in einem geschlossenen Raum? Und wenn ja, wie war sie hie r herg e ko m men?
    Lena versuchte, den Kopf zu heben. Nichts geschah. Überhaupt nichts.
    Es war, als habe sie den Kontakt zu ihrem Körper verloren. Sie unternahm einen weiteren Versuch der Bewegung, diesmal an die Finger ihrer rechten Hand gerichtet. Na los, macht schon!
    Nichts.
    Panik überfiel sie; die Urangst, gelähmt zu sein, nahm ihr für Sekunden den Atem. Irgendwann stieß sie die Luft aus, getrieben von einem Impuls, der stärker war als ihre Furcht. Also atmete sie doch, obwohl es ihr bis zu diesem Augenblick nicht bewußt gewesen war. Sie mußte nur hinsehen, dann konnte sie vielleicht beobachten, wie sich ihr Brustkorb hob und senkte. Ihre Pupillen gehorchten, auch wenn Lena durch ihr Unvermögen, den Kopf zu heben, nur einen weißen Streifen Stoff erkennen konnte. Aber er bewegte sich!
    Sie atmete!
    Dr. Rachel Weissenberg, die Klinikpsychologin, war als eine der ersten benachrichtigt worden. Jetzt stand sie ein wenig unschlüssig in der Nähe der Tür und begnügte sich damit, ihre neue Patientin zu beobachten.
    Achtzehn Jahre waren eine sehr lange Zeit, und jede Aufregung, jeder zusätzliche Reiz konnte die blasse dunkelhaarige Frau in das Dunkel zurückstoßen, aus dem sie sich eben herauszutasten begann.
    Natürlich mußte sie früher oder später mit ihr sprechen – deshalb war sie ja hier – aber die ersten Schritte in ihr neues Leben mußte die Patientin allein gehen. Wie es tatsächlich um sie stand, konnte sie nicht wissen, und von Rachel würde sie es auch nicht erfahren. Jedenfalls nicht heute oder morgen ...
    Jeder hier in der Klinik kannte die Geschichte dieser Frau, und es hatte eine Zeit gegeben, da hatte jedes Kind ihren Namen gekannt. Selbst heute trafen noch hin und wieder E-Mails mit Anfragen und Genesungswünschen ein, und das, obwohl die Klinik eine Website installiert hatte, die seit Jahren bekanntgab, daß Lena Romanowa nach wie vor im Koma läge und jede Änderung ihres Zustands umgehend mitgeteilt werden würde. Im Archiv lagerten ganze Wäschekörbe mit Post aus aller Welt. Vielleicht würde sie ihr irgendwann ein paar davon vorlesen können. Das Melenki-Attentat hatte seinerzeit nicht nur Rußland erschüttert, sondern Schockwellen in die ganze Welt ausgesandt. Der vergessene Krieg hatte plötzlich ein Gesicht bekommen, und das Schicksal von Lena, der berühmten Ballerina, und Sergej, dem Soldaten, hatte selbst Menschen betroffen gemacht, die nicht einmal wußten, wer da eigentlich gegen wen kämpfte.
    Salvatore Brionis »Feuertanz« mit Kate Fielding und Roger Zelenko in den Hauptrollen galt bereits heute als ein Filmklassiker wie »Doktor Schiwago« oder »Vom Winde verweht«. Dabei war das Multivisionsspektakel erst vor knapp zehn Jahren in die Kinos gekommen. Doch dann war London gefallen, und der Vegas-Anschlag hatte auch dem Letzten klargemacht, daß Krieg und Terror wenig mit Kunst und sehr viel mehr mit Sterben zu tun hatte, und so war das Interesse der Öffentlichkeit am Schicksal der Romanowa schon bald abgeflaut.
    Die Welt ist nicht besser geworden in diesen 18 Ja h ren, dachte Rachel mit einer Spur Melancholie. Trot z dem: Wil l kommen zurück!
    Lena ahnte nichts von der Anwesenheit einer anderen Person. Sie war beschäftigt. Nachdem sie festgestellt hatte, daß sie ihre Atmung kontrollieren konnte, ihren Lidschlag und die Bewegung der Pupillen, hatte sie sich die Aufgabe gestellt, ihr Blickfeld zu erweitern. Sie hatte nach wie vor keinerlei Vorstellung, wo sie sich befand, aber sie würde es herausfinden. Ein Stück grüngetünchter Decke, etwas metallisch Glänzendes, das einer Jalousie ähnelte, und ein Streifen Stoff waren jedoch zuwenig. Sie mußte ihren Körper dazu bringen, ihr wieder zu gehorchen. Daß sie keinerlei Berührungsreize wahrnahm, irritierte sie zwar, änderte aber nichts an ihrer Entschlossenheit. Sie konzentrierte sich, bündelte all ihre Willenskraft in diese eine Bewegung und hatte Erfolg: Für den

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