Die Schatten des Mars
versuchte er krampfhaft, Haltung zu bewahren, doch seine Mundwinkel zuckten verräterisch.
»Komm mit«, sagte Martin. »Ich bringe dich zu Freunden.«
»Geh weg«, erwiderte Arif störrisch und versuchte, die Tränen mit den Händen abzuwischen. Als Martin seinen Arm um die Hüfte des Jungen legte, zuckte der zwar zurück, ließ es dann aber geschehen. Er zitterte am ganzen Körper.
Während des Abstiegs schwiegen beide, bis der Junge plötzlich zu sprechen begann:
»Sie waren dort ...«
Seine Stimme klang weinerlich wie die eines wesentlich jüngeren Kindes.
»Wer war dort?« erkundigte sich Martin vorsichtig.
»Die Soldaten, die ich ...«
Der Junge begann erneut zu schluchzen.
Umgebracht habe, dachte Martin, blieb aber stumm. Er hatte kein Recht, darüber zu urteilen. Geduldig wartete er, bis Arif sich ein wenig beruhigt hatte, und versuchte dann, das Thema zu wechseln: »Aber es waren nicht nur Soldaten dort, oder?«
»Nein«, zum ersten Mal erhellte die Andeutung eines Lächelns das Gesicht des Jungen.
»Wie heißt sie?« Martin wußte, daß nur ein Mädchen der Grund für diese Veränderung sein konnte.
»Djamila.« Arifs Augen strahlten durch die Tränen hindurch.
Eine Zeitlang schwiegen beide. Martin wußte jetzt, daß es einen Weg gab, Gewißheit zu erlangen. Er mußte nur in der Nähe des Jungen bleiben. Wenn irgendwann das Mädchen Djamila auftauchte, dann ...
Er schüttelte den Kopf: Was würde das ändern?
»Du willst auf sie warten?«
Der Junge nickte zustimmend.
»Und wo?«
»Weiß nicht. Egal.«
»Und wenn sie nicht kommt?«
»Sie kommt«, strahlte der Junge, und Martin beneidete ihn einen Augenblick lang um diese Sicherheit.
»Du brauchst Hilfe«, sagte er und griff nach seinem Funkgerät. Flemming würde einen Jeep schicken, und in einer knappen Stunde konnten sie zu Hause sein...
Zu Hause, wiederholte er nachdenklich. Wo ist das eigen t lich?
Martin sah Arif Tursun erst Jahre später wieder.
Sein Notrufsender war ausgefallen, und so war er gezwungen, das Gerät zu Flemming zu bringen. Unterwegs fiel ihm ein Anwesen auf, das vor ein paar Jahren noch nicht dort gestanden hatte. Es bestand aus einem kleinen Wohncontainer und zwei Gewächshäusern. Martin hielt sich in gebührendem Abstand, aber der Besitzer hatte ihn offensichtlich kommen sehen und lief ihm rufend und winkend entgegen. Es war Arif. Als Martin sich aus der stürmischen Umarmung des jungen Mannes befreit hatte, fiel sein Blick auf eine zierliche Frau, die sich in offenkundiger Verlegenheit im Hintergrund hielt. Sie trug ein Kind im Arm und ein dunkles Kopftuch, das ihr Haar verbarg.
»Djamila und Kendesch, mein Sohn«, strahlte der junge Familienvater.
Martin kämpfte den Schmerz nieder, der sich unter seinem Brustbein ausbreitete, und verabschiedete sich rasch und wortkarg.
Sein Wunsch hat sich erfüllt, dachte er und schluckte die Tränen hinunter. Was soll daran schlecht sein?
Lenas Garten
Achtzehn Jahre, zwei Monate und zwölf Tage nach dem Attentat erwachte Lena Romanowa auf der Intensivtherapiestation der Monroe-Klinik für rekonstruktive Chirurgie in Santa Monica, Kalifornien.
Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer unter dem Personal, denn Lena war die einzige Komapatientin der Klinik, die in der Hauptsache auf Transplantations- und Neurochirurgie spezialisiert war. Lenas Freundin Miriam, die zu ihrem gesetzlichen Vormund bestimmt worden war, hatte die Einweisung in eine Komaklinik verhindert. Die Vorstellung, ihre Freundin unter Dutzenden maschinell ernährter menschlicher Hüllen in einem abgedunkelten Saal mit künstlich reduzierter Schwerkraft zu wissen, war ihr so unerträglich erschienen, daß sie mit Hilfe einer renommierten Anwaltskanzlei eine individuelle Betreuung durchgesetzt hatte.
Blinzelnd öffnete Lena die Augen und schloß sie sofort wieder. Das Licht blendete, obwohl die Jalousien im Zimmer geschlossen waren. Sie verspürte keinerlei Schmerzen, nur die angenehme Mattigkeit des Halbschlafs. Noch schwebte ihr Bewußtsein träge und orientierungslos im Dunkel gestaltloser Erinnerungen, doch der Prozeß des Erwachens – von EEG-Monitoren und Elektromyographen präzise dokumentiert – schritt rasch voran.
Wo bin ich? Die einzige Möglichkeit, dies herauszufinden, war ein weiterer Versuch, die Augen zu öffnen. Halb widerwillig blinzelte Lena in die schmerzende Helligkeit, bis sie ihre Umgebung wenigstens in Umrissen wahrzunehmen vermochte. Doch nichts, was sie
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