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Die Schatten des Mars

Die Schatten des Mars

Titel: Die Schatten des Mars Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank W. Haubold
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Gegenstand verschwinden ließ. Nach seinen Erfahrungen versanken die betreffenden Fremdkörper nicht etwa kontinuierlich, sondern erst nach einer bestimmten Zeitspanne und – wie er vermutete – sehr schnell. Beobachtet hatte er diesen Vorgang allerdings noch nie. Dennoch ging der Dichter nicht davon aus, daß die Reaktionen des Meeres etwas mit seiner Anwesenheit zu tun hatten, auch wenn sich ihm mitunter der Eindruck aufdrängte, daß es ihn zum Narren hielt.
    Wahrscheinlich handelte es sich eher um einen Schutzmechanismus, der erst nach eingehender Analyse des »Störfaktors« zur Wirkung kam. Dafür sprach auch, daß Menschen generell unbehelligt blieben, selbst wenn sie sich tagelang in seinem Einflußbereich aufhielten. Vielleicht unterlagen bewußte Lebensformen einem besonderem Schutz? Tatsache blieb, daß unbelebte Gegenstände nach einer gewissen Verzögerung von der Oberfläche des Sandmeeres verschwanden. Wie das geschah, und was letztlich aus ihnen wurde, darüber konnte er nur Vermutungen anstellen. War es bei Steinen oder Metallkörpern noch denkbar, daß sie durch ihr Eigengewicht versanken, wenn sich die Fließeigenschaften des Sandes änderten, so schied diese Möglichkeit bei Gegenständen mit geringerer Dichte aus. Und doch waren auch schon Kleidungsstücke, Handschuhe oder Schutzbrillen verschwunden: Dinge, die gar nicht versinken konnten. Das Meer hielt seine Oberfläche sauber wie ein pedantischer Parkhüter den ihm anvertrauten Rasen. Gewiß hatte es sich auch der fliegenden Blätter angenommen, die ihm der Wind neulich aus den Händen gerissen hatte ...
    Das Manuskript! Der Dichter schlug sich gegen die Stirn. Das war es!
    Die Erleichterung war stärker als sein Ärger über die eigene Begriffsstutzigkeit. Nein, er war nicht wahnsinnig, und er litt auch nicht unter Wahrnehmungsstörungen. Er hatte die Szene gestern tatsächlich so erlebt – eine Szene, die exakt dort abbrach, wo auch das verlorengegangene Manuskript geendet hatte.
    Das Meer! ... sein Gefühl hatte ihn nicht getrogen ...
    Es dauerte ein wenig, bis sich der alte Mann so weit gefaßt hatte, daß er seine Wanderung fortsetzen konnte. Mechanisch, fast wie in Trance, setzte er einen Schritt vor den anderen, während seine Gedanken beinahe zwanghaft zu jener Szene zurückkehrten, deren Urheber er nun zu kennen glaubte.
     
    Noch am gleichen Abend entschloß sich der traurige Dichter, das Meer auf die Probe zu stellen. Die Versuchung war stärker als die Furcht vor einem Fehlschlag. Im schlimmsten Fall riskierte er, daß es ihn ignorierte. Dann würde er wohl nie erfahren, ob seine Schlußfolgerungen richtig waren.
    Und wenn es die Herausforderung annahm?
    Solange er noch nicht einmal einen Köder ausgelegt hatte, blieb die Frage rein hypothetisch. Über das ›Wie‹ brauchte er sich nicht mehr den Kopf zu zerbrechen, wohl aber über das ›Was‹, schließlich handelte es sich dabei um eine Entscheidung von einiger Tragweite.
    Es war bereits dunkel, als der Dichter mit einem Stapel Manuskripte zum Gewächshaus hinüberging. Hier hatte er schon des öfteren den notwendigen Abstand gefunden, wenn er mit einer Geschichte nicht weiterkam. Vielleicht würde ihm die Illusion irdischen Sommers auch heute helfen, die richtige Wahl zu treffen.
    Der alte Mann blieb die ganze Nacht über in seinem lichterfüllten Glaskäfig. Hin und wieder las er ein paar Zeilen, meistens hielt er jedoch die Augen geschlossen, als sei er eingeschlafen. Doch der Eindruck täuschte.
    Der traurige Dichter war zu einer weiten Reise aufgebrochen, die ihn zurück in seine Heimatstadt Grünheim führte – zu jenen, die mit ihm jung gewesen waren. Und natürlich zu Lara. Es hatte etwas Seltsames mit diesen Erinnerungen auf sich, die Teil einer Welt waren, die nie so existiert hatte. Er hatte sie selbst erschaffen, danach, und mit unzähligen Details liebevoll ausgeschmückt. Keine dieser Geschichten würde jemals einen Verlag finden, denn sie betrafen ausschließlich Lara und ihn. Es war verlockend, in diese niemals erlebte Vergangenheit einzutauchen, in der er selbst ohne Schuld war und Lara noch am Leben ...
    Als der Dichter im Morgengrauen das Gewächshaus verließ, hatte er eine Entscheidung getroffen. Er war todmüde, aber von einer Ungeduld besessen, die den Gedanken an Schlaf gar nicht erst aufkommen ließ. Nach einem hastig hinuntergeschlungenen Frühstück machte er sich auf den Weg zum »Seeblick«, jenem windgeschützten Ruheplatz, an dem er auf seinen

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