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Die Schatten des Mars

Die Schatten des Mars

Titel: Die Schatten des Mars Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank W. Haubold
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den Bürgersteig entlang geschoben wurde. Natürlich wußte er auch, wem der Puppenwagen gehörte, war es doch nicht das erste Mal, daß das Mädchen hier vorbeikam. Gleich würde es stehenbleiben und durch die Schaufensterscheibe schauen. Ganz sicher hatte es etwas auf dem Herzen und traute sich nicht herein.
    Einen Augenblick später bestätigte sich seine Vermutung: Zuerst erschien ein schäbiger Plastikpuppenwagen in seinem Blickfeld, dann folgte seine Besitzerin, ein schmal wirkendes Mädchen mit lustig wippenden Zöpfen. Unschlüssig schaute es sich um, bevor es sein Gesicht gegen die Schaufensterscheibe preßte.
    Na, komm schon, dachte der kleine Mann und winkte ihm aufmunternd zu.
    Die Einladung hatte offenbar Erfolg, denn das Mädchen nahm tatsächlich seine Puppe aus dem Wagen und betrat die Werkstatt.
    Wahrscheinlich hatte es dafür all seinen Mut aufbringen müssen, denn seine Wangen glühten vor Aufregung, als es ihm die Puppe entgegenhielt und ihn dabei so ängstlich-hoffnungs-voll ansah, daß es ihm das Herz zusammenkrampfte.
    Er war ein aufmerksamer Beobachter, deshalb fielen ihm nicht nur die aus billigem Gardinenstoff genähten Kleider der Puppe auf. Er bemerkte auch den sorgfältig geflickten Riß im Kleid des Mädchens und das abgeschabte Leder seiner Schuhe, die aussahen, als wären sie ihm zu klein.
    Was er sah, machte ihn traurig, obwohl er schlimmere Armut gesehen hatte auf seinen Reisen, viel schlimmere. Manchmal konnte er helfen, meistens nicht. Das war die Last, die er zu tragen hatte ...
    Diesem Mädchen – woher wußte er eigentlich, daß es Sophie hieß? – würde er wenigstens eine Freude machen können, denn mit Puppen kannte er sich aus. Fachmännisch betastete er Kopf und Körper der Puppenpatientin und versprach rasche Heilung.
    »Du kannst sie wirklich wieder ganz machen?« erkundigte sich Sophie ungläubig und strahlte, als er sein Versprechen noch einmal bekräftigte.
    »Dann bis morgen!« rief das Mädchen überglücklich und stürmte aus dem Laden.
    Der Uhrmacher ging zum Fenster und sah ihm nach, bis die Straße und die Häuser gegenüber zu verschwimmen begannen und das Blau des Himmels verblaßte. Noch war das Mädchen von fern zu sehen, eine schmächtige Gestalt, die rasch kleiner wurde, bis ihre Silhouette schließlich mit dem Rot des Sandmeeres verschmolz.
    Schade, dachte Alois Sonnenschein, bevor sich sein Bewußtsein auflöste, aber wir sehen uns bestimmt ...
     
    Als der traurige Dichter zu sich kam, waren die Uhren und das altertümliche Mobiliar verschwunden. Durch das Fenster konnte er einen Streifen rosafarbenen Himmels erkennen.
    Vorsichtig berührte er das eine oder andere Möbelstück, um sicherzugehen, daß es tatsächlich an seinem Platz stand. Nein, dieses Mal spielten ihm seine Sinne wohl keinen Streich.
    Seine Sinne? Wie konnte er ihnen nach dieser erschreckend realistischen Vision noch trauen? Und wenn es gar keine Vision gewesen war? Keine Sinnestäuschung, sondern etwas anderes, ungleich Bedrohlicheres? Schließlich hatte die Veränderung ja nicht nur sein Umfeld betroffen, sondern vor allem ihn selbst.
    Gewiß, es war schon vorgekommen, daß ihn eine Szene, an der er gerade schrieb, bis in seine Träume verfolgt hatte. Aber das waren eben nur Träume gewesen, keine Risse in der Wirklichkeit. Die Welt, in der er sich eben noch befunden hatte, war ihm nicht weniger real erschienen als die ihm vertraute. Mehr noch, das fremde Bewußtsein, das so plötzlich von ihm Besitz ergriffen hatte, war das einer Person gewesen, die nicht einmal seine Erinnerungen teilte ...
    Eine Szene aus einer erdachten Geschichte, die plötzlich zur Realität wurde: Das war nicht nur absurd, sondern absolut unmöglich. Schließlich war er nicht Marshall France und dieser Ort nicht Galen aus dem Land des L a chens.
    Wenn er allerdings ausschloß, daß sich das Erlebte tatsächlich so zugetragen hatte, blieb am Ende nur eine Alternative: Er war dabei, den Verstand zu verlieren. Obwohl der Dichter nie Veranlassung gehabt hatte, sich mit Geisteskrankheiten zu befassen, fiel ihm sofort der Begriff Schizophrenie ein: Bewußtseinsspaltung. War ihm nicht genau das eben widerfa h ren?
    Die Schlußfolgerung erschien plausibel, aber er wies den Gedanken sofort energisch von sich. Wahrscheinlich war er nur ein wenig überreizt. Schließlich hatte er in letzter Zeit Tag und Nacht an dieser verdammten Geschichte gearbeitet – kein Wunder, daß es mit seinen Nerven nicht zum besten stand.

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