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Die Schatten des Mars

Die Schatten des Mars

Titel: Die Schatten des Mars Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank W. Haubold
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Existenz innerhalb der eigenen Schöpfung.
    Wenn sich der Dichter zurücklehnte und die Augen schloß, sah er sie ganz deutlich vor sich, die Stadt am Fluß, in der er aufgewachsen war. Und natürlich Lara, die nie einen Tag älter als siebzehn Jahre sein würde. Wie oft hatte er sich gewünscht, ihr noch einmal zu begegnen – an jenen altvertrauten Orten, die in seiner Vorstellung längst den Zwängen der Realität entrückt waren.
    Aber das würde wohl ein Traum bleiben, jetzt, da das Experiment gescheitert war. Seine Hoffnungen ruhten irgendwo am Grunde des Sandmeeres, dessen Schweigen nur eines bedeuten konnte: Es wird nie mehr sein ...
    Am einhundertneunzigsten Tag seiner neuen Zeitrechnung verzichtete der traurige Dichter zum ersten Mal auf den gewohnten Strandspaziergang. Da er aufgehört hatte zu schreiben, machte die Einhaltung damit verbundener Rituale keinen Sinn mehr. Wenn das Meer nichts mit ihm zu schaffen haben wollte, dann war es wohl das klügste, es ebenfalls zu ignorieren. Er hatte jedenfalls nicht vor, sich vor ihm zu demütigen. Außerdem blieben ihm ja noch die Sonnenblumen, die seiner Zuwendung bedurften. Besagte Zuwendung beschränkte sich allerdings zunehmend darauf, daß er die Tage in ihrer Gesellschaft verdämmern ließ, ohne sich zu einer sinnvollen Aktivität durchringen zu können.
    Er aß kaum noch, trank dafür um so mehr. Der alte Mann hatte festgestellt, daß ihm geringere Mengen Alkohol, über den ganzen Tag verteilt, weitaus besser bekamen als gelegentliche abendliche Exzesse.
    Immer mehr Zeit verbrachte der Dichter im Bett oder Liegestuhl und träumte von Dingen, die gewesen waren, und anderen, die hätten sein können. Den Wechsel zwischen Tag und Nacht nahm er nur noch beiläufig zur Kenntnis. Er schlief, wenn ihm die Augen zufielen, aß und trank, wenn er das Bedürfnis dazu verspürte.
    Du richtest dich zugrunde, beklagte sich eines Abends eine besorgte Stimme, die gewiß nicht die des Meeres war.
    Irrtum, antwortete der traurige Dichter in Gedanken. Ich sorge höchstens dafür, daß es aufhört.
    Du wirst sterben, beharrte die Stimme und klang ein wenig ängstlich dabei.
    »Na und? Das trifft jeden«, murmelte der alte Mann und goß sich ein neues Glas ein. »Lara ist nun schon seit siebzig Jahren tot.«
    Was hat das mit ...
    »Laß mich ausreden!« Der Dichter hob die Stimme, obwohl er nach wie vor allein im Raum war. »Sie ist nicht weggegangen, damals. Das weißt du genausogut wie ich. Ich habe sie umgebracht.«
    So etwas darfst du nicht sagen. Es war ein Unfall ...
    »Mag sein – aber was ändert das schon?«
    Die Stimme schwieg.
    Na also, dachte der Dichter und trank das Glas mit einem Zug leer. Plötzlich fiel ihm etwas ein – etwas, das so wichtig war, daß er sich sofort Klarheit verschaffen mußte.
    Vielleicht gab es doch noch eine Chance ...
    Mit unsicheren Schritten stakste er zum Schreibtisch und schaltete den Computer ein. Es dauerte ein wenig, bis er die richtige Datei gefunden hatte, und noch viel länger dauerte es, den Text von all den Halbwahrheiten und Selbsttäuschungen zu befreien, an die er sich bis zuletzt geklammert hatte.
    Ungeduldig wartete er, bis der Drucker seine Arbeit beendet hatte, und lief dann mit einer Handvoll Seiten hinaus in die sternklare Nacht.
    Die Kälte stach wie mit tausend Nadeln auf seine ungeschützte Haut an Gesicht und Händen ein, aber der alte Mann ließ sich nicht aufhalten. Mühsam das Gleichgewicht bewahrend, stolperte er hinunter zum Strand und ließ die weißen Blätter fliegen, die der ablandige Wind sofort in Richtung Meer trieb.
    »Wolltest du das!?« rief er herausfordernd, bevor ihm der Speichel im Mund gefror und er sich hustend abwandte. Irgendwie schaffte es der Dichter zurück zum Haus, ohne zu stürzen oder ernsthafte Erfrierungen davonzutragen. Vielleicht wachte ein Schutzengel über ihn, vielleicht hielt ihn aber auch die Hoffnung aufrecht, die so unerwartet in sein Leben zurückgekehrt war.
     
    In dieser Nacht schlief der traurige Dichter tief und traumlos, und als er erwachte, zeichnete die Sonne bereits goldfarbene Rechtecke auf das helle Parkett seines Zimmers. Vögel zwitscherten, und es roch nach Kaffee und frisch gemähtem Gras.
    »Steh endlich auf, du Faultier!« rief jemand mit der Stimme seiner Mutter. »Du hast Besuch!«
    Lara! dachte der Junge, der später einmal ein berühmter Schriftsteller werden wollte, und sprang mit einem Satz aus dem Bett. Ich bin wohl wirklich ve r dammt spät dran

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