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Die Schatten des Mars

Die Schatten des Mars

Titel: Die Schatten des Mars Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank W. Haubold
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Heute nacht würde er erst einmal gründlich ausschlafen, dann würde sich alles Weitere schon finden.
    An diesem Abend trank der traurige Dichter mehr als das gewohnte Glas Rotwein vor dem Schlafengehen, viel mehr. Aber die erwünschte Wirkung blieb aus. Noch Stunden später lag er wach und lauschte in die Dunkelheit, doch das Meer atmete still, und der Wind hatte sich erschöpft zur Ruhe gelegt.
    Das Meer. Damit hatte es angefangen. Vielleicht ha t te es doch zu ihm gesprochen, und er hatte es nur nicht wahrh a ben wollen ... das Meer ... irgend etwas war damit ...
    Der Dichter wollte den Gedanken festhalten, aber die Müdigkeit war stärker und ließ ihn schließlich in einen unruhigen, von wirren Träumen erfüllten Schlaf hinüberdämmern.
    Er erwachte mit stechenden Kopfschmerzen und dem Gefühl, der Lösung ganz nahe gewesen zu sein. Im Augenblick hatte er allerdings nicht die geringste Vorstellung, in welcher Richtung sie zu suchen war. Früher oder später würde er sich gewiß erinnern, aber das war nur ein schwacher Trost.
    Der Schmerz hatte sich in seinem Hinterkopf festgesetzt und pulsierte im Rhythmus seines Herzschlags. Kaffee würde nichts dagegen ausrichten, und wenn er jetzt eine Tablette nahm, mußte er mit tagelangen Nachwehen rechnen. Der traurige Dichter war ein erfahrener Trinker, der die Auswirkungen gelegentlicher Exzesse genau kannte. An Arbeit war unter diesen Umständen jedenfalls nicht zu denken. Aber vielleicht würde ihm etwas frische Luft guttun.
    Die Kälte nahm ihm für einen Augenblick den Atem, als er die Tür hinter sich schloß. Er zog die Kapuze seines Overalls über den Kopf und ging hinunter zum Strand. Das Meer lag still im blassen Licht der Morgensonne. Es duldete keine Schatten. Obwohl man seine Oberfläche unter normalen Umständen gefahrlos begehen konnte, verschwanden Gegenstände, die man darauf liegenließ, innerhalb kürzester Zeit. Es mußte eine Eigenschaft des Sandes sein, die dieses Phänomen bewirkte.
    Vor Jahren hatte der Fall eines Seismologenteams für Aufsehen gesorgt, das tagelang als verschollen galt, bis es von einem Suchflugzeug entdeckt wurde. Nach ihrer Rettung hatten die Männer erklärt, ihr Fahrzeug verl o ren zu haben; es sei plötzlich verschwunden gewesen, obwohl sie sich nur ein paar hundert Meter entfernt hätten, um Meßgeräte aufzustellen. Der Geländewagen blieb verschollen, und die Sender der ausgesetzten Sonden nahmen niemals ihren Betrieb auf. Nach einem weiteren, ähnlich gearteten Vorfall waren die Erkundungsarbeiten schließlich eingestellt worden. Das Sandmeer blieb eine area incognita.
    Für den traurigen Dichter war es allerdings weit mehr als nur ein weißer Fleck auf der Landkarte oder eine geologische Struktur. Er hatte sich hier niedergelassen, weil ihn die Aura des Geheimnisvollen angezogen hatte, die das Sandmeer umgab. Obwohl die archäologischen Untersuchungen ohne Ergebnis geblieben waren, war er nach wie vor überzeugt davon, daß sie einmal existiert hatten, die alten Städte, von denen er in seiner Jugend geträumt hatte. Vielleicht war die Zivilisation, die sie einst geschaffen hatte, tatsächlich zugrunde gegangen und hatte sie dem Verfall preisgegeben. Vielleicht war aber auch etwas anderes geschehen – etwas, das so weit jenseits des menschlichen Vorstellungsvermögens lag, daß jeder Versuch einer rationalen Erklärung scheitern mußte. Der Dichter war sich darüber klar, daß es nicht den Schatten eines Beweises für seine Theorie gab. Alles, was er besaß, waren vage Hinweise und das unheimliche Gefühl, daß das Sandmeer auf irgendeine Weise lebte und intelligent war. Wenn er recht hatte, dann mußte es unendlich alt sein, nicht Tausende, sondern viele Millionen Jahre. Und genau so unendlich mußte seine Geduld sein, es sei denn, es lebte außerhalb der Zeit. Vielleicht war es ihm gelungen, das zu erreichen, wovon der alte Mann träumte: eine Existenz jenseits von Vergangenheit und Zukunft – einen Ankerplatz im Strom der Zeit ...
    Der Dichter bückte sich, hob einen kleinen Felsbrocken auf und schleuderte ihn hinaus aufs Meer. Der Stein schlug beim Aufprall ein kleine Kuhle in den Sand und blieb dann liegen, wie es zu erwarten gewesen war. Aber bald würde er nicht mehr dasein, vielleicht schon, wenn er auf dem Rückweg wieder hier vorbeikam. Das Eigentümliche an diesem Phänomen war der Umstand, daß es ihm trotz unzähliger Versuche nie gelungen war, das Meer dabei zu beobachten, wie es den jeweiligen

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