Die Schatten des Mars
die Alliierten zunehmend ferngesteuerte Kampfroboter entgegen, die Verluste der eigenen Truppen in Grenzen halten sollten. Die postbiologische Evolution der Waffensysteme war offenkundig längst im Gange.
Der Schock kam erst, als die »Schildkröten« nach erfüllter Mission ans Tageslicht zurückkehrten und die Kamera eine davon in Großaufnahme zeigte. Ohne die Markierung, die irgend jemand – vermutlich der unbekannte Absender – in das Bildmaterial eingefügt hatte, wäre Julius die höckerförmige Ausbuchtung auf dem Rückenpanzer des Mechanowesens gar nicht sofort aufgefallen. So aber war kein Zweifel möglich: Es handelte sich um ein sogenanntes »Fromberg-Auge« – eine Kombination von Infrarot- und Ultraschallsensoren, die mit einem Dreikreiselkompaß und einem selbstlernenden Navigationssystem gekoppelt war. Das Ganze war eine Auftragsentwicklung für das neue ESA-Marsmobil gewesen, die das Fahrzeug in die Lage versetzen sollte, auch in den unzugänglichsten Regionen autark zu operieren. Die Mission war erst für das kommende Jahr geplant, aber offensichtlich bediente Julius’ Firma noch andere Kunden – vermutlich sogar mit Priorität.
Man hatte ihn hintergangen, aber noch deprimierender als dieser Umstand war die Erkenntnis, daß er sich selbst in diese Situation gebracht hatte. War er wirklich so naiv gewesen zu glauben, daß seine Arbeit ausschließlich der Wissenschaft diente? Und was war mit der übertariflichen Bezahlung und den anderen Vergünstigungen, die die Firma ihren Mitarbeitern gewährte? Nach seinen Erfahrungen in Prohaskas Institut hätte er damit rechnen müssen, daß es noch andere Geldgeber gab. Er hatte sich nur nicht darum gekümmert. Und wenn ihm jener Unbekannte nicht das Video zugespielt hätte, wäre es zweifellos immer so weitergegangen. Seine Ahnungslosigkeit änderte nichts an der Tatsache, daß er mitgeholfen hatte, diese Tötungsmaschinen zu vervollkommnen. Ob er es absichtlich getan hatte oder nicht, war am Ende ohne Belang. Es gab sie nicht, die »reine« Wissenschaft, nicht in dieser Firma, nicht in diesem Land und nicht auf diesem Planeten. Kevin Schwarz würde recht behalten, daran bestand wohl kaum noch ein Zweifel. Und im Augenblick wußte Julius nicht einmal, ob er darüber traurig sein sollte ...
Er handelte dennoch, wenn auch mit begrenztem Erfolg. Der von ihm angestrengte Prozeß gegen seinen ehemaligen Arbeitgeber wegen Vertrags- und Urheberrechtsverletzung endete mit einem Vergleich. Das angestrebte Nutzungsverbot für das sogenannte »Fromberg-Auge« vermochten seine Anwälte nicht durchzusetzen, da der Bertrand-Wolffsohn-Erlaß – ein erst vor Jahresfrist verabschiedetes Sondergesetz – die Nutzung wissenschaftlicher Erkenntnisse im Interesse der Sicherheit des Bündnisses auch gegen den erklärten Willen des Rechte-Inhabers zuließ. Julius erhielt allerdings eine Entschädigungszahlung in sechsstelliger Höhe zugesprochen, die er umgehend an eine Hilfsorganisation überwies, die sich der Betreuung kriegsversehrter Kinder verschrieben hatte.
Besser fühlte er sich danach nicht. Er schlief unruhig, und manchmal träumte er von wieselflinken Riesenschildkröten, die ihn durch ein dunkles Höhlenlabyrinth verfolgten ...
Irgendwann kündigte er sein Apartment und verließ die Stadt, ohne eine Nachsendeanschrift zu hinterlegen. Der Kontakt zu seinen ehemaligen Mitarbeitern war schon während des Prozesses abgerissen, und persönliche Bekanntschaften hatte Julius nie gepflegt. Einzig das Anwaltsbüro, das ihn seinerzeit vertreten hatte, stellte aus formellen Gründen Nachforschungen an, die aber ergebnislos blieben. Dabei hatte Julius nicht einmal besondere Anstrengungen unternommen, seinen zukünftigen Aufenthaltsort geheim zu halten.
Er war nach Meerburg zurückgekehrt, doch sein Entschluß hatte keine familiären Gründe. Julius‘ Eltern lebten seit einigen Jahren in der Toskana, und seine Schwester hatte nach Übersee geheiratet. Es war auch nicht die Stadt selbst, die ihn angezogen hatte, sondern ein verlassenes Dorf in unmittelbarer Umgebung. Dort hatte er einen Bauernhof erworben, der wie die anderen Gebäude des Ortes seit Jahrzehnten leer stand. Der Kaufpreis war der Nachfrage entsprechend bescheiden gewesen, und so war Dr. Julius Fromberg seit einiger Zeit der einzige Einwohner der früheren Gemeinde Marienthal.
Die Abgeschiedenheit des Ortes behagte ihm, mehr noch, sie erschien ihm als unabdingbare Voraussetzung für ein erträgliches und
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