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Die Schatten des Mars

Die Schatten des Mars

Titel: Die Schatten des Mars Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank W. Haubold
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die Beifallsbrandung schließlich verebbte und erwartungsvoller Stille Platz machte.
    Die Gavotte war zwar nicht viel mehr als eine Pflichtübung für eine Tänzerin ihres Formats, aber es war eine Melodie, die die meisten wohl schon einmal gehört hatten, und die verspielt anmutenden Variationen des Themas schufen eine Art Vertrautheit mit dem Publikum, wie sie bei komplexeren Partien wohl nur schwer zu erreichen war.
    Der Beifall war herzlich, aber keineswegs euphorisch, doch das war exakt der Einstieg, den Lena geplant hatte. Schließlich sollte noch eine Steigerung möglich sein. Sie nutzte die kurze Pause, um den Schweiß abzutrocknen und etwas neuen Puder aufzutragen. Es war zu warm in dem hoffnungslos überfüllten Saal, aber sie fühlte sich großartig. Sie hatte ein Gefühl für die Bühne bekommen, die eigentlich zu schmal für die üblichen Choreographien war, und sie wußte jetzt, daß sie sich auf Sarokin und die Musiker verlassen konnte.
    Ich werde großartig sein, dachte Lena fern jeder Überheblichkeit. Ich muß ganz einfach großartig sein. Das bin ich Sergej schuldig.
    Die ersten Takte von Strawinskis »Feuervogel« trieben sie zurück auf die Bühne. Es war eine völlig andere Art von Musik, vielschichtig und bis ins Detail auf das Geschehen auf der Bühne abgestimmt. Der Vorhang hob sich, und Lena spürte beglückt, wie sich ihr Körper auf die Musik einstimmte, den Rhythmus in sich aufnahm und fast ohne ihr Zutun in klare, fließende Bewegungen umsetzte. Der Tanz des Feuervogels war eine ihrer emotionalsten Partien. Fernab jeder künstlerischen Exaltiertheit verlieh er grundlegenden Sehnsüchten Ausdruck – auch ihren eigenen. Es gab Choreographen, die die Rolle des Feuervogels wegen ihrer athletischen Anforderungen mit männlichen Solotänzern besetzten, aber das widersprach Lenas Auffassung von der Freiheit als einem zutiefst weiblichen Prinzip. Mittlerweile wurde ihre Interpretation dieser Rolle von der Kritik in einem Atemzug mit den Auftritten der legendären Uljanowa genannt.
    Die technischen Abläufe waren Lena längst in Fleisch und Blut übergegangen, so daß sie sich voll auf die Musik konzentrieren konnte. Sie begann verhalten, vertraute sich dem Fluß der Melodie an, die sie mit beinahe körperlicher Präsenz einhüllte und mit sich trug. Der Rhythmus wurde schneller und fordernder; gleitende Schrittfolgen wechselten mit kraftvollen Sprüngen und Pirouetten, mächtigen Flügelschlägen gleich, mit denen sich der Feuervogel aus der erdgebundenen Gefangenschaft zu befreien suchte.
    Lena tanzte nicht mehr, sie schwebte buchstäblich, getragen von der Musik und den bewundernden Blicken des Publikums, das ihrem Vortrag in atemloser Spannung folgte. Ein letzter Paukenwirbel, ein letztes Aufbäumen, dann erstarrte die Szene in einem Augenblick völliger Lautlosigkeit, bevor der Beifall wie ein donnerndes Echo den Saal erfüllte.
    Zum ersten Mal an diesem Abend fand Lena die Muße, nach Sergej Ausschau zu halten. Zu ihrem Erstaunen fand sie ihn nicht in der vordersten Sitzreihe, die für die örtlichen Honoratioren reserviert war, sondern einige Reihen dahinter inmitten der Gruppe Veteranen, die ihr schon am Mittag aufgefallen war. Trotz seines Maßanzuges schienen ihn die Männer in den braunen Militärmänteln zu akzeptieren, mehr noch, in gewisser Weise ähnelte er ihnen sogar. Erst in diesem Augenblick begriff Lena, was er ihr an diesem Nachmittag hatte sagen wollen. Sie hatte ihm nicht zugehört, nein, nicht zuhören wollen, weil sie Angst vor jenem Unbekannten hatte, der sich hinter seinem Jungenlächeln verbarg.
    Sergej klatschte begeistert und winkte ihr zu, doch Lena reagierte nicht. Etwas Kaltes hatte sich in ihrer Magengrube eingenistet, ein Gefühl der Beklemmung ähnlich dem, das sie beim Anblick ihres Elternhauses empfunden hatte.
    Allmählich verebbte der rhythmische Beifall des Publikums, und plötzlich entstand Unruhe im Orchester. Eine der Musikerinnen war aufgesprungen und hatte dabei ein paar Notenständer umgerissen. Die stämmige dunkelhaarige Frau – Lena konnte nur ihren Rücken erkennen – bahnte sich rücksichtslos ihren Weg in Richtung Publikum. Aus den Augenwinkeln sah Lena, daß auch einer der Veteranen aufgesprungen war und mit kreidebleichem Gesicht etwas schrie. Sergej winkte noch immer, nein, es war kein Winken, vielmehr eine Geste der Abwehr, als wolle er ihr sagen, daß sie von der Bühne verschwinden solle.
    Die Szene hatte etwas Surreales, das jede

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