Die Schatten des Mars
einer weiteren Prüfung. Und Martin war keineswegs überzeugt davon, sie bestehen zu können. Dafür war ihm etwas anderes klargeworden: Wenn er gehen wollte, dann mußte er sofort gehen, jetzt auf der Stelle. Morgen würde er vielleicht nicht mehr den Mut aufbringen.
Es war noch dunkel, als Martin seinen Rucksack schulterte und hinaus zum Schuppen ging. Winselnd scharten sich die Rummdogs um ihn, doch er nahm nur zwei der Tiere mit: Merope und Taygeta, seine jüngste Anschaffung. Wenn er Hilfe brauchte, konnte er sie mit einer Nachricht zu Flemming schicken.
»Wir sind bald zurück«, versprach Martin und ließ die Schuppentür angelehnt. Er wußte, daß Rummdogs nicht davonliefen.
Es war kalt, der gefrorene Sand hart wie Stein. Nicht mehr lange, und der Boden würde auch tagsüber nicht mehr auftauen. Der kurze Marssommer neigte sich seinem Ende entgegen; bald würde die Kälte die Kolonisten draußen für Monate in ihren Häusern einschließen. Der Treibhauseffekt, auf den die Ingenieure der Marsgesellschaft setzten, ließ auf sich warten.
Weshalb blieb er dann hier?
Jahrelang hatte Martin diese Frage verdrängt. Er war hier, weil er es so wollte. Punkt und aus. Um so mehr beunruhigte ihn das Gefühl, daß er der Antwort vielleicht näher war, als er sich einzugestehen wagte ...
Er war nervös, so nervös, daß er erschrocken zusammenfuhr, als die beiden Rummdogs an der Windschutzmauer plötzlich stehenblieben. Es dauerte einige Sekunden, bis ihm klar wurde, daß sie auf Anweisungen warteten. Entweder Martin übernahm selbst die Führung, oder er nannte ihnen ein Stichwort, mit dem sie etwas anfangen konnten. »Stadt« war so ein Begriff, »Flemming« oder einfach »nach Hause«. Ob das auch auf »Chanan« zutraf, wußte Martin nicht. Aber das würde er gleich herausfinden. Er rief Merope zu sich, und bemühte sich, den Namen so auszusprechen, wie es die Stimme getan hatte: »Cha-nan«.
Das Mechanowesen verharrte reglos und starrte ihn fragend an.
Hatte es ihn nicht verstanden? Oder gab es am Ende doch keinen Eintrag unter diesem Stichwort?
Plötzlich ging ein Ruck durch den Körper des Rummdogs. Bellend sprang Merope auf und lief in weiten Sätzen hangabwärts. Die Leine straffte sich, und Martin beeilte sich, dem Leittier zu folgen. Taygeta schien von dem plötzlichen Aufbruch überrascht. Erst nachdem ihr klar geworden war, daß die beiden nicht zurückkommen würden, setzte sie sich zögernd in Bewegung, hatte aber bald zu ihnen aufgeschlossen.
»Nicht so eilig«, versuchte Martin Meropes Eifer zu dämpfen, die wie ein Jagdhund auf frischer Fährte ihrem unbekannten Ziel zustrebte. »Wir haben Zeit.« Natürlich waren die Worte für ihn selbst bestimmt, Teil einer Illusion, die ihm half, mit der Einsamkeit fertigzuwerden. Er sprach oft mit den Rummdogs, obwohl er wußte, daß sie ihn nicht verstehen konnten. Die Mechanowesen vermochten zwar die Stimme ihres Besitzers zu identifizieren und bestimmte Befehle auszuführen, auf ganze Sätze oder gar längere Ansprachen reagierten sie jedoch nie.
Merope verminderte ihr Tempo dennoch, aber das war ausschließlich dem Druck der Leine zuzuschreiben, die Martin ein wenig fester angezogen hatte. Sie durften nicht zu schnell werden. Ein Fehltritt, und das Unternehmen war zu Ende, bevor es richtig begonnen hatte. Obwohl sich seine Augen mittlerweile an die Dunkelheit gewöhnt hatten, nahm er die Umgebung nur schemenhaft wahr. Die Beschaffenheit des Untergrundes vermochte er kaum zu erkennen. Martin besaß zwar eine Nachtsichtbrille, benutzte sie aber nur ungern. Das grünstichige Bild erinnerte ihn an seine Militärzeit. Die leuchtenden Punkte waren damals Ziele gewesen ...
Schmerz, Zorn und Dunkelheit. Seltsam, daß ihm das gerade jetzt einfiel. Die alte Frau hatte recht behalten – falls es eine alte Frau gewesen war. Wahrscheinlicher war, daß sie damit zu tun hatten, auch wenn Martin noch immer nicht wußte, weshalb die Wahl auf ihn gefallen war. Und wenn es doch nur ein Traum gewesen war? Was unterschied einen Traum überhaupt von einem Ereignis, das keine Spuren hinterließ? Martin war damals noch einmal auf den Rummelplatz gegangen, dorthin, wo der bunte Wagen der Wahrsagerin gestanden hatte. Der Platz war verlassen gewesen, und der Junge hatte auch niemanden gefunden, der sich an den Wagen erinnerte. Schließlich waren ihm Zweifel gekommen, ob es überhaupt die richtige Stelle war, und so hatte er weitergesucht, einen ganzen Nachmittag lang, doch der
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