Die Schatten des Mars
Familie gründen wollte, eine Frage, der sich Sylvie nicht gewachsen fühlte.
Schließlich wurden Neuankömmlinge bereits am ersten Tag belehrt, daß sie sich bei Madame Dubois keinen Hoffnungen zu machen brauchten. Sie sei, sagte man, nett, aber – vergiß es einfach, Kumpel.
Langsam kapselte sich der Schmerz ein, verlor seine Schärfe, wurde zu einem dumpfen Druck, einer schlecht verheilten Narbe. Sylvies Wohnung lag am Rande der Kuppelstadt, wo sie auf die weite, kahle Ebene hinausblicken konnte. Es gab keine Kastanienbäume und keine Stockenten. Kinderwagen waren eine Seltenheit und erregten so viel Aufmerksamkeit, daß Sylvie ihnen mit Leichtigkeit aus dem Weg gehen konnte. Irgendwann begann sie, lange Spaziergänge außerhalb der Kuppel zu unternehmen. Die Landschaft ohne befestigte, markierte und aufgeräumte Wanderwege forderte ihre ganze Aufmerksamkeit. Die Steine unter ihren Füßen, ihre Lungen, die nie genug Sauerstoff bekamen, die tückischen Geröllhalden ließen keinen Raum für andere Gedanken. Kehrte sie spätabends erschöpft zurück, schlief sie anschließend ruhig und ohne die sonst so häufigen Träume von Adriennes Krankheit.
Immer weiter führten sie ihre Ausflüge. Manchmal, wenn sie frei hatte, war sie für zwei, drei Tage unterwegs, rollte irgendwo ihren Thermoschlafsack aus, wenn es dunkelte. Wilde Tiere gab es schließlich nicht, nicht einmal Mücken. Die Fahrer der Minengesellschaft hielten sie für eine Fata Morgana, wenn sie mitten in der roten Wüste hinter einem Felsen auftauchte, das lange blonde Haar im dünnen Wind der Atmosphärengeneratoren wehend, und hinter dem nächsten Felsblock wieder verschwand. Sylvie fühlte sich von den riesigen Lastern gestört und lief weiter in das unwirtliche Land hinein, einen Cañon entlang, der früher ein Flußbett gewesen zu sein schien. Vieles hier sah aus, als sei es früher irgend etwas gewesen. Sylvie fragte sich, ob sie noch erleben würde, daß in diesem Tal wieder Wasser floß. Sie lief, und sie wurde ein Teil des Landes, so wie das Land ein Teil von ihr wurde. Aber eigentlich entfernte sie sich Schritt für Schritt von Adrienne, lief dem Schmerz davon, bis ...
Als sie aufwachte, hielt sie alles für eine neue Version jenes Traumes, in dem ihre Tochter wieder und wieder starb. Es war ein besonders plastischer Traum gewesen. Zum ersten Mal war sie nicht im Krankenhaus, sondern hier auf dem Mars gewesen, und diesmal hatte Adrienne gesagt, sie würde wiederkommen. Sylvie zuckte mit den Schultern, rollte ihren Schlafsack zusammen und machte sich auf den Rückweg. Vermutlich hieß all das nur, daß sie endgültig auf dem roten Planeten angekommen war. Oder daß es der Vergangenheit gelungen war, sie einzuholen. Adrienne. Sie wäre jetzt acht, würde in die Schule gehen, lesen lernen.
Zu Hause in ihrer winzigen, standardisierten Bergarbeiterwohnung, zog sie vorsichtig den Overall aus. Der rote Staub verteilte sich, wenn man nicht acht gab, quer durch alle Räume. Als sie die Klappe des Ultraschallreinigers öffnete, hörte sie ein Geräusch. Erschrocken hielt sie inne.
»Mama? Mama, bist du zurück?«
Ich verliere den Verstand, dachte Sylvie, oder ich schlafe immer noch. Sie hörte schnelle, kurze Schritte im Wohnzimmer, und dann stand Adrienne vor ihr.
»Mama, machst du uns Crêpes mit Honig?«
Das kann nicht sein, dachte ein kleiner Teil von Sylvie, während ihr Mund bereits sagte: »Aber ja doch.« Dann fiel ihr ein, daß es auf dem Mars keinen Honig gab – und daß das ganz unwichtig war. Sie ließ den Overall fallen, ohne die orangerote Staubwolke zu bemerken.
»Mama?«
»Ja, meine Kleine?«
»Hast du dir wehgetan? Du weinst ja.«
Verschämt wischte Sylvie über ihre Augen. »Das ist nur, weil ich mich freue, daß ich wieder zu Hause bin.«
»Ich freue mich auch, aber ich weine nicht.«
Erst da kniete sich Sylvie hin und schloß ihre Tochter in die Arme.
Alles war anders. Plötzlich gab es so viele Dinge zu tun, daß Sylvie kaum wußte, wo ihr der Kopf stand. Sie hatte keine Kindersachen mitgebracht, und auf dem Mars war es schier unmöglich, welche aufzutreiben.
Der Company Store hatte keine im Sortiment, was sie bisher nicht gestört hatte. Im Gegenteil, unbewußt hatte sie sich in dem Supermarkt ohne Spielzeugabteilung wohler gefühlt als in jedem auf der Erde. Jetzt war das anders. Sylvie war gezwungen zu improvisieren. Innerhalb weniger Tage kannte sie alle Eltern, die Kinder zwischen drei und acht Jahren
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