Die Schatten des Mars
bunt bemalte Wagen blieb verschwunden. Am Ende hatte er nicht einmal mehr den Mut aufgebracht, seine Freunde zu fragen, was an dem fraglichen Abend überhaupt passiert war. Das Risiko, daß sie möglicherweise etwas ganz anderes gesehen hatten als er selbst, war zu groß gewesen, und so hatte er nie mit ihnen darüber gesprochen ...
Schmerz, Zorn und Dunkelheit. Martin hatte sie durchquert, die drei Meere, von der die Wahrsagerin gesprochen hatte. Mittlerweile erschien es ihm auch nicht mehr wichtig, ob die damalige Begegnung tatsächlich oder nur in seiner Einbildung stattgefunden hatte. Es hatte keinen Sinn, reale von fiktiven Erinnerungen zu unterscheiden. Manchmal hinterließ ein Traum tiefere Spuren als das am Tage Erlebte, füllte die Erinnerung mit Bildern, die auch nach Jahren kaum etwas von ihrer Intensität verloren. Auch jetzt sah er die Frau mit der Porzellanmaske ganz deutlich vor sich, hörte ihre Stimme und spürte das leichte Kribbeln, mit dem ihre Finger über seine Handfläche glitten. Wer die Nacht kennt, muß den Tag nicht fürchten ...
Martin schüttelte unwillig den Kopf und atmete tief durch. Er war gerade noch rechtzeitig zurückgekehrt. »Nacht« war das Stichwort gewesen, das ihn im letzten Augenblick gewarnt hatte. Wovor, das wußte Martin nicht, er wußte nur, daß es etwas Unangenehmes gewesen war, etwas, das er um keinen Preis der Welt noch einmal durchleben wollte.
In klaren, windstillen Nächten wie dieser waren Erinnerungen allgegenwärtig, die eigenen wie die fremden. Es war leicht, der Versuchung nachzugeben, einzutauchen in die Flut der Bilder und Klänge, den wispernden Stimmen zu folgen, die Unerhörtes, nie Gesehenes versprachen. Zu vergessen, woher man gekommen war und wohin man wollte. Es war nicht mehr wichtig, denn alles, was sein würde, war nichts gegen das, was gewesen war.
In Nächten wie dieser schliefen die Menschen unruhig, und es kam immer wieder vor, daß einzelne die Geborgenheit der Wärmekuppeln verließen, einem Ruf folgend, den niemand außer ihnen hören konnte. Die meisten kehrten nie zurück. In Nächten wie dieser war es leicht, sich zu verlieren ...
Aufgeregtes Bellen riß Martin aus seinen Betrachtungen.
»Braves Tier«, murmelte er, als er das Hindernis erkannte, vor dem ihn Merope gewarnt hatte: eine Erdspalte, zwar nur zwei Fuß breit, aber tief genug, um sich darin die Beine zu brechen. Ohne die Rummdogs wäre sein Ausflug hier zu Ende gewesen. Martin war beinahe sicher, daß der Spalt vor ein paar Tagen noch nicht dagewesen war, aber das war kein ungewöhnliches Phänomen. Der Sand war immer in Bewegung, legte Spalten und Risse frei und schloß andere. Das Terrain veränderte sich ständig, deshalb vermieden die Kolonisten nach Möglichkeit nächtliche Fußmärsche. Martin wußte zwar, daß er sich auf Merope verlassen konnte, aber es war dennoch ein ungutes Gefühl, vor einem Hindernis zu stehen, das er selbst nicht bemerkt hatte. Früher wäre ihm das nicht passiert, aber früher hatte er auch keine Rummdogs besessen.
Noch vor Sonnenaufgang erreichten sie die Straße, die Port Marineris mit den neu erschlossenen Clarithgruben im Osten verband. Eigentlich war es keine richtige Straße, sondern ein Fahrweg, der hin und wieder mit ein paar Betonplatten befestigt worden war. Es ging das Gerücht um, daß die Marsgesellschaft eine neue vierspurige Schnellstraße bauen wollte, aber das würde vermutlich noch Jahre dauern. Das Unbehagen, das Martin bei dem Gedanken empfand, hatte allerdings nichts mit den finanziellen oder technischen Problemen des Projekts zu tun. Er spürte instinktiv, daß eine moderne Schnellstraße aus Beton und Stahl nicht hierher paßte. Nicht in dieses Tal, nicht in diese Landschaft und nicht in diese Welt. Das wäre etwa so, als würde man auf den Trümmern von Troja eine Müllverbrennungsanlage errichten. Es würde den Ort entweihen. Natürlich war sich Martin darüber im klaren, daß seine Bedenken niemanden kümmerten. Wenn der Bau der neuen Straße wirtschaftliche Vorteile versprach, dann würde sie gebaut werden. Das war auf dem Mars nicht anders als auf der Erde, und nur ein Narr konnte darin etwas Böses sehen ...
Der Lichtstreifen im Osten wurde breiter und tauchte die Landschaft in trübes, schattenloses Grau. Die Straße lag still und verlassen. Es würde noch Stunden dauern, bis die ersten Erztransporter auf dem Weg in die Stadt diese Stelle erreichten.
Einen Augenblick lang bereute Martin beinahe, so zeitig
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