Die Schatten des Mars
aufgebrochen zu sein. Die Fahrer der Minengesellschaft nahmen gern Leute von draußen mit, und die Vorstellung, einen Teil der Strecke in der klimatisierten Kabine eines Sattelschleppers zurücklegen zu können, war verlockend.
Allerdings wollte er nicht in die Stadt, sondern zu einem Ort, der sich irgendwo in den Valles fernab jeder menschlichen Ansiedlung befand. Wer immer Meropes Routenspeicher manipuliert hatte, war gewiß nicht davon ausgegangen, daß Martin den Weg zum Chanan per Anhalter zurücklegte. Wenn dieser Ort für seine Gastgeber tatsächlich von Bedeutung war, dann bedurften sie mit Sicherheit keiner von Menschen angelegten Straße, um ihn aufzusuchen. Wahrscheinlich war es nur einem Zufall zuzuschreiben, daß die Route eine Zeitlang parallel zur Straße verlief.
Martin erkannte seinen Irrtum erst, als die Sonne aufgegangen war und die grauen Nebel vertrieben hatte. Jetzt, da er freie Sicht auf das vor ihnen liegende Tal hatte, wurde ihm plötzlich klar, wie die Vorfahren seiner Gastgeber zum Chanan gelangt waren. Er mußte nur die Augen schließen, um den Fluß zu sehen. Den Fluß und die smaragdgrünen Lichter der Boote, die lautlos stromabwärts glitten ...
Man mußte kein Einheimischer sein, um zu erkennen, daß sie noch immer zusammengehörten, dieses Tal und der Fluß, der schon seit Jahrmillionen Vergangenheit war. Niemand hatte die Menschen daran gehindert, sein ausgetrocknetes Bett als Straße zu benutzen. Niemand würde ihnen verbieten, an seinen Ufern Siedlungen zu errichten mit Tankstellen, Supermärkten und allem, was ihrer Ansicht nach dazugehörte. Niemand würde sich über den Lärm beschweren, den ihre Turbinenfahrzeuge und Preßlufthämmer verursachten, niemand den Übermut beklagen, mit dem sie von Dingen Besitz ergriffen, die sie nicht verstanden.
Es war nicht wichtig, das wurde Martin in diesem Augenblick mit schmerzhafter Deutlichkeit bewußt. Die Kolonisten mochten die neue Schnellstraße Abraham-Lincoln-Highway nennen, ihre Containerstädte New Charleston oder Port Michigan und das alte Meer Death Valley; für den toten Fluß, das Tal und die Berge bedeutete es nichts. Sie besaßen bereits Namen – Namen, die der Wind mit sich trug, wenn er nachts über die Hügel strich. Diese Namen waren schon uralt gewesen, als auf der Erde noch öde, menschenleere Wildnis geherrscht hatte, und sie würden auch dann noch Teil dieser Landschaft sein, wenn sich niemand mehr an Charleston oder Michigan erinnerte. Sie hatten das Versiegen der Flüsse überdauert, das Austrocknen der Meere und den Zerfall der alten Städte, die schon vor Millionen Jahren von ihren Bewohnern verlassen worden waren.
Martin besaß keinen Beweis, daß sie tatsächlich existiert hatten, aber er wußte es, hatte es auf schwer zu erklärende Weise immer gewußt. Sonst wäre er vielleicht nicht hier ...
Gegen Mittag begegneten sie dem ersten Fahrzeug, einem Erztransporter, der eine rote Staubfahne hinter sich herzog. Martin wechselte ein paar Sätze mit dem Fahrer, einem freundlichen Frankokanadier, der gerade einen Fünf-Jahres-Vertrag bei der Minengesellschaft unterschrieben hatte. Marcel, so hieß der Junge, war noch nie jemandem von draußen begegnet und entsprechend neugierig. Er bestaunte die Rummdogs und erkundigte sich wie alle Fahrer, die Martin bislang begegnet waren, nach dem Wetter: Würde es Sturm geben? Martin verneinte lächelnd, lehnte den angebotenen Kaffee jedoch ab, nicht aus Unhöflichkeit, sondern weil er weitere Fragen vermeiden wollte. Sie verabschiedeten sich mit den üblichen Floskeln, dann heulten die Turbinen auf, und das riesige Fahrzeug setzte sich träge schaukelnd in Bewegung.
Martin pfiff die Rummdogs heran, die die Szene aus sicherer Entfernung verfolgt hatten, überprüfte den Sitz von Meropes Geschirr und gab den Befehl zum Aufbruch. Allmählich verklang das Motorengeräusch hinter ihnen, der aufgewirbelte Staub setzte sich, und bald erinnerte nichts mehr an die Begegnung, die ihm rückblickend beinahe unwirklich erschien.
Die Gedanken, die Martin durch den Kopf gingen, hatten nichts mit den Kolonisten und ihren Aktivitäten auf dem Mars zu tun. Er hatte versucht, sie zu verdrängen, doch es war unmöglich, nicht daran zu denken, was ihn am Ziel seiner Reise erwartete.
»Er lernt dich kennen und trifft eine Entscheidung«, hatte der brennende Mann über den Chanan gesagt. Das klang bedrohlich nach Allmacht, dennoch hatte Martin nicht den Eindruck gehabt, daß sie den Chanan
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