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Die Schatten des Mars

Die Schatten des Mars

Titel: Die Schatten des Mars Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank W. Haubold
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hatten. Sie bekam hier ein T-Shirt und da ein Paar ziemlich abgestoßener Schuhe geschenkt. »Wir haben sie auch nur gebraucht bekommen«, sagte die Frau entschuldigend. Ein Nachbar half ihr, ein Standardbett mit einem kleinen Gitter auszurüsten, damit Adrienne nicht herausfallen konnte. Die Auswanderer waren verblüffend hilfsbereit, wenn man nur zugab, daß man Hilfe benötigte.
    Schließlich organisierte Sylvie auch eine Kinderbetreuung. Die verheirateten Paare hatten sich zwangsläufig in die alte Rollenverteilung gefügt, doch sie selbst brauchte ihre Arbeit, um sich und Adrienne ernähren zu können. Mit etwas gutem Willen und logistischem Geschick war es durchaus möglich, die Kinder reihum zu betreuen. Natürlich sprach niemand Französisch, und Sylvie hatte alle Mühe, Adrienne das reformierte, mit eingeschleppten Fremdwörtern durchsetzte Englisch der Siedler beizubringen.
    Ehe sie sich versah, war ein Jahr vergangen, dann ein zweites. Adrienne kam ins Schulalter, und das türmte ein neues Problem auf, das gelöst werden mußte. Sylvie klapperte die Seniorenresidenzen ab, bis sie einige pensionierte Lehrer gefunden hatte, die bereit waren, den wenigen Schülern in Port Marineris etwas beizubringen. Das Elternnetzwerk, das Sylvie in den letzten Jahren geknüpft hatte, tat ein übriges. Ohne es selbst zu bemerken, war sie zum Mittelpunkt eines sozialen Geflechtes geworden, das eine Generation echter Marsianer behütet aufwachsen ließ.
    Mit Adrienne war das Leben zurückgekehrt. Die Kleine war aufgeweckt und hatte eine erstaunlich schnelle Auffassungsgabe. Mit den anderen Kindern verstand sie sich bestens. Natürlich konnte sie schwierig sein, besonders wenn sie abends ins Bett sollte, aber meist war sie ein braves Kind. Ein wenig zu brav vielleicht. Ein wenig zu klug.
    Manchmal, wenn das Mädchen mit dem aus Putztüchern und einer zerfledderten Bluse genähten Hund im Arm eingeschlafen war, hielt Sylvie inne, starrte in die Nacht und fragte sich, was all das bedeutete. Sie lauschte dem Schmerz nach, der sich unter all der Geschäftigkeit verborgen hielt. Viel zu genau erinnerte sie sich an den kalten, winzigen Körper auf dem Krankenhausbett, das Gesicht, das aussah, als würde es bei der geringsten Berührung zersplittern. An guten Tagen hielt sie es für einen schlechten Traum, den sie in einem anderen Leben, auf der Erde, geträumt hatte. An weniger guten wußte sie, daß Adrienne tot war, und daß sie ihre tote Tochter Tag für Tag betrog. Und wenn es nicht Adrienne war, was da schlief … Sie wagte nicht, den Gedanken zu Ende zu denken, weil sie wußte, daß sie sich an diesem Ende würde entscheiden müssen.
    Dann rastete der Alltag ein wie ein Getriebe und nahm sie mit sich, zerrieb die Gedanken und bot tausend Vorwände, um die Entscheidung zu verschieben.
     
    Es war Adriennes achter Geburtstag. Sylvie hatte Kuchen gebacken und tatsächlich acht Kerzen aufgetrieben. Schon vor Monaten hatte sie bei einer Haushaltsauflösung ein bunt bebildertes Märchenbuch gekauft. Natürlich war es alt und abgewetzt, weil es wieder und wieder gelesen und vorgelesen worden war. So sahen all die Kindersachen aus, die wegen sentimentaler Erinnerungen in Gepäckkisten in die Seniorenresidenzen gelangten, dort für ein paar Jahre eine längst verschwundene Erde heraufbeschworen und schließlich in den Kisten der professionellen Beräumer landeten. Das Märchenbuch hatte einer Frau aus Wales gehört, die jetzt auf dem schnell wachsenden Friedhof hinter Port Marineris lag. Sylvie hatte es in rotes Papier eingewickelt und neben den Kuchen gelegt.
    Adrienne hüpfte wie ein Gummiball, als sie ins Zimmer kam. Die Kerzen spiegelten sich in ihren blauen Augen. Ungeduldig riß sie das Papier auf. »Ein Buch«, rief sie, »ein richtiges Buch! Und ich kann es schon ganz allein lesen. Danke, Mama!« Sie fiel Sylvie um den Hals. Dann nahm sie ihr Geschenk, doch statt herumzublättern und die Bilder anzusehen, begann sie auf der ersten Seite zu lesen. Darüber vergaß sie sogar die Kerzen.
    Sylvie betrachtete sie eine Weile, dann holte sie tief Luft. »Adrienne«, sagte sie. »Ich muß mit dir reden.«
    Das Kind sah auf, zu schnell, zu aufmerksam.
    »Wer oder was immer du bist«, sagte Sylvie und ihr war, als müßte sie an den Worten ersticken. »Ich weiß, daß du nicht Adrienne bist, denn Adrienne ist seit sechs Jahren tot. Die Toten kehren nicht zurück. Wahrscheinlich bist du hier zu Hause. Ich weiß nicht, warum du ihre Rolle

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