Die Schatten eines Sommers
«Der hat auch ein Buch geschrieben, beim gleichen Verlag wie ich, und wir haben nur kurz nebeneinandergestanden, fürs Foto.»
Einen kurzen Moment lang waren sie enttäuscht, aber dann schöpften sie neue Hoffnung. «Trotzdem!», rief die Pummelige. «Du bist berühmt! Genau wie Fabienne. Die kommt sogar ins Fernsehen, demnächst. Hab ich von ihrer Tante gehört.»
Ich erhob mich abrupt und zwang mich zu einem munteren Lächeln.
«Bin gleich wieder da», versicherte ich.
Auf der Flucht nach draußen kam ich an der offen stehenden Tür zu den Herrentoiletten vorbei. Als ich Wolffs sonore Stimme erkannte, blieb ich neugierig stehen.
«Nee, Peer», sagte er entrüstet. «Das ist ein reines Klassentreffen. Da könnte ja jeder …»
«Ach, komm schon!», unterbrach Peer ihn. «Mach dich locker. Das war mein bester Kumpel damals. Hat er dir mal ’nen Strafzettel verpasst, oder wieso hast du was gegen den?»
Wolff lachte gequält auf. «Nein, ich hab nichts gegen ihn. Also gut, dann bring ihn eben mit in Gottes Namen.»
Ich fragte mich, wen Peer heute Abend unbedingt mit dabeihaben wollte. Aber die beiden hatten das Problem offensichtlich auf Männerart gelöst, schnell und zackig, und keinen Bedarf mehr, das Ganze weiter auszudiskutieren. Als ich die Spülung hörte, machte ich mich zügig aus dem Staub.
Auf der Fahrt zum Hotel lag mein Handy auf dem Beifahrersitz. Ich wollte keinesfalls Fabiennes Antwort auf meine SMS verpassen. Aber es kam keine. Im kühlen Hotelzimmer fiel ich auf der Stelle in Schlaf. Ich hatte mir den Wecker auf sechs Uhr gestellt, genügend Zeit, um nach dem Aufwachen noch zu duschen. Das Treffen bei Wolff sollte um neunzehn Uhr beginnen, das war natürlich albern. Erwachsene Menschen empfangen vor zwanzig Uhr keine Gäste.
Es war Marie, die mir öffnete, als ich um halb neun an Wolffs Haustür klingelte.
«Sie ist da», flüsterte sie mir verschwörerisch zu. «Aber nur, weil ihr Auto kaputt ist. Sagt sie jedenfalls.»
Über Maries Schulter hinweg blickte ich durch das weiträumige Wohnzimmer und die offen stehenden Glastüren hinaus auf die große Terrasse hinterm Haus. Es lief Lounge-Musik, auf einem langen Tisch standen unzählige Weinflaschen und ein paar Snacks, man plauderte, lachte, trank und rauchte.
Ich war zuvor ein einziges Mal bei Wolff gewesen, wir hatten mit einer kleinen Schülergruppe bei ihm für eine Theateraufführung geprobt. Sein Haus hatte danach lange für Gesprächsstoff gesorgt, weil es so rein gar nichts mit dem zu tun hatte, was in Beerenbök üblich war. Äußerlich war es ein Backsteinbau, wie alle anderen. Aber drinnen hatten Wolff und seine Frau sämtliche Wände eingerissen, die für die Statik nicht unbedingt notwendig waren. Das Wohnzimmer nahm nahezu das gesamte Erdgeschoss ein, und die angegliederte offene Küche schien uns damals eine Sensation, ebenso wie die puristische Einrichtung: eine großzügige Sitzlandschaft, einige Bücherregale und ein langer Esstisch. An den Wänden hatten damals große gerahmte Kunstdrucke gehangen, ausschließlich sehr freizügige Akte, die uns zu wilden Spekulationen über Wolffs Sexualleben veranlasst hatten. Wolffs Frau war eine blasse, unauffällige Erscheinung gewesen, die sich auf den Schulfesten oder sonstigen Feierlichkeiten still an seiner Seite gehalten hatte und stets frühzeitig verschwunden war. Kaum war sie weg, lief Wolff regelmäßig zu Hochform auf und ließ seinen Charme spielen.
Ich war etwas angespannt, als Marie mich am Arm nahm und auf die Terrasse führte. Nicht nur wegen Fabienne, sondern vor allem, weil ich weitere Fragen wegen meines Buchs befürchtete. Wolff begrüßte mich kurz und reichte mich dann sogleich an eine Walküre namens Annkathrin weiter. Ich erkannte sie von ihrem Facebook-Foto wieder. Sie war es, die mir von Dorits Tod geschrieben hatte.
«Ihr müsstet euch wunderbar verstehen», sagte Wolff. «Annkathrin arbeitet in einem Verlag.»
Sie war nett, gratulierte mir kurz noch einmal manierlich zu meinem Buch und verlor dann kein weiteres Wort darüber. Auch alle anderen Anwesenden hatten es entweder nicht gelesen oder waren zu höflich, um mich darauf anzusprechen. Es waren rund fünfzehn aus unserem Jahrgang gekommen, und die Stimmung war locker und angenehm. Wir plauderten über alte Zeiten, unsere Jobs und all jene, die nicht da waren. Ich war überrascht, wie entspannt gerade diejenigen waren, die niemals aus Beerenbök weggegangen waren. Es war angenehm, einmal nicht mit
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