Die Schatten eines Sommers
Pflegefall. Das ist Höchststrafe, oder?» Sie machte eine Pause, bevor sie leise schloss: «Und dann noch mein Buch …»
Mit einem Mal tat Hanna mir fast leid. Aber nur fast. Ich traute ihrer plötzlichen Demutshaltung einfach nicht. Sie machte eine kleine Pause, bevor sie ein Stück näher zu mir heranrückte.
«Meinst du, Dorit hat was mit Mirko gehabt?»
Ich sah Hanna entsetzt an. «Wie kommst du denn darauf?»
Hanna verschränkte die Arme. «Na ja, er hat so was angedeutet. War vielleicht auch nur Wunschdenken. Ich meine, Mirko war damals schon geil auf alles, was Brüste und einen halbwegs annehmbaren Arsch besaß.»
«Immerhin ist er verheiratet», warf ich ein.
«Wirklich? Ich kann mir nicht vorstellen, dass es eine Frau länger mit ihm aushält. Na, vielleicht bringt er sie ja heute Abend mit zu Wolff.»
Das bevorstehende «Klassentreffen» hatte ich zwischenzeitlich fast vergessen. Und plötzlich hatte ich nicht mehr die geringste Lust dort hinzugehen. Warum mit Wolff, Mirko, Peer und anderen Leuten von damals zusammensitzen und vermeintlich gute alte Zeiten heraufbeschwören, die nie wirklich gut gewesen waren? Jedenfalls fast nie. Okay, Wolffs bewundernde Blicke hatten mir heute durchaus geschmeichelt. Aber trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb: War es nicht das Beste, ich kehrte einfach nach Hamburg zurück? Jetzt sofort? In knapp zwei Stunden konnte ich zu Hause sein und mit Thomas und Lea zu Abend essen. Schließlich war Fabienne auch heimgefahren. Ohne eine wirklich glaubwürdige Entschuldigung oder gar Erklärung. Im Grunde sogar, ohne sich richtig zu verabschieden.
«Weißt du, Hanna», setzte ich an. «Am liebsten würde ich …»
«Kommt nicht in Frage!» Hanna schüttelte energisch den Kopf. «Du bleibst hier, und wir gehen heute Abend zusammen zu Wolff!» Als sie meinen Widerstand spürte, wurde ihr Blick weicher. «Bitte, Marie! Lass mich nicht hängen, ja? – Vielleicht kriegen wir ja auf diese Weise raus, was mit Dorit passiert ist. Zumindest im Ansatz!» Sie griff nach ihrer Tasche und erhob sich. «Pass auf, ich frage jetzt Tante Hiltrud nach Fabiennes Handynummer. Und dann schicken wir ihr eine SMS , ja? Fabienne muss zurückkommen und heute Abend dabei sein. Wir drei, wir müssen doch zusammenhalten, so wie damals, ja? Einverstanden, Marie? Komm, sag ja!»
Ich zögerte. Ließ ich mich schon wieder auf Hannas Spielchen ein? Ließ ich mich erneut manipulieren? Ach, und wenn schon …
«Also gut, ich bleibe.»
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FABIENNE
Als Hannas SMS mich erreichte, hatte ich das Ortsausgangsschild von Beerenbök schon vor Augen. Ich hätte mein Handy in der Jackentasche lassen sollen, aber ich tat es nicht. Ich wusste, dass es Hanna war. Oder vielleicht auch Marie, weil Hanna sie vorgeschoben hatte. Während ich mit dem Wagen durch Beerenbök rollte, hatte ich ein albernes Spiel mit mir gespielt: Wenn ich nichts von ihr hörte, bevor ich aus dem Ort raus bin, dann war es das. Dann würde ich all das hier hinter mir lassen. Als sich das Handy mit leisem Summen meldete, fuhr ich rechts an den Straßenrand. Ich las die SMS –
Komm zurück, Fabienne! Ich will mehr von dir!
– und plötzlich klopfte mir das Herz gegen die Rippen.
Der Schweiß lief mir in dünnen Rinnsalen die Achseln hinunter. Es war unerträglich heiß in dem aufgeheizten Wagen, obwohl ich beide Fenster runtergelassen hatte. Ich zog mir die schwarze Kostümjacke aus, genauso wie die Feinstrumpfhose, die an meinen Beinen klebte. Es war mir egal, ob mich jemand dabei beobachtete. Das ist das Angenehme, wenn man über vierzig ist: Man pfeift von Tag zu Tag mehr darauf, was die Leute so denken. Aber Beerenbök lag eh wie ausgestorben da. Die meisten waren noch beim Leichenschmaus.
Ich will mehr von dir!
Was für eine Anmaßung von Hanna, mir diesen Satz zu schreiben. Wusste sie eigentlich, dass ich verheiratet gewesen war, fünf Jahre lang?
Ich hatte Henning am Ende des Studiums bei einer Demonstration gegen Atommülltransporte kennengelernt, wir hatten uns ineinander verliebt, guten Sex gehabt und genauso gute Gespräche geführt. Als ich erfuhr, dass ich schwanger war, heirateten wir vier Wochen später und richteten uns voller Optimismus eine Dreizimmerwohnung am Rand von Tübingen ein. Weitere fünf Wochen später verlor ich erst das Kind und dann meine Illusionen in Bezug auf Henning. Auch ich war damals traurig. Aber er vergrub sich geradezu in seinen Kummer über den Tod dieses Kindes, das
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