Die Schatten eines Sommers
es ein Unfall oder Selbstmord war.»
«Warum nicht?» Ich keuchte es fast.
«Ein Unfall, bei dem eine gute Schwimmerin auf einem ruhigen See aus einem stabilen Ruderboot fällt? Scheidet aus. Und Selbstmord?» Er zählte an den Fingern seiner Hand ab. «Erstens: kein Abschiedsbrief. Zweitens: ihr voller Terminkalender für die Tage nach ihrem Tod. Drittens: Wer sich in einem stillen See ertränken will, braucht etwas, das ihn unter Wasser zieht. Steine in den Jackentaschen. Einen Anker. Egal was. Da war aber nichts. Na ja, und noch so einiges, was dagegen spricht.»
Ich hätte ihm um den Hals fallen können. Ich war raus aus der Sache! Kein Selbstmord! Mein Buch hatte Dorit nicht in den Tod getrieben.
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MARIE
Natürlich hatte ich mir fest vorgenommen, nicht als eine der Ersten bei Wolff aufzutauchen. Schließlich wollte ich selbstbewusst und lässig rüberkommen. Nicht umsonst haben die wirklich tollen Frauen in Hollywood-Filmen einen späten, wirkungsvollen Auftritt, während die grauen Mäuse frühzeitig anrücken, um der Gastgeberin beim Belegen der Schnittchen zu helfen. Außerdem sollte es keinesfalls so aussehen, als hätte ich es darauf angelegt, mit Wolff allein zu sein, bevor die Massen einfielen.
Aber wieder einmal machte meine Mutter meine Pläne zunichte. Ich hielt es einfach nicht mehr aus bei ihr. Es klingt vielleicht paradox, aber eigentlich hatte ich mich nach der Beerdigung ganz gut gefühlt. Wolffs Charmeoffensive hatte mir geschmeichelt, und Hanna schien es wirklich wichtig zu sein, dass ich in Beerenbök blieb, um mit ihr zu diesem improvisierten Klassentreffen zu gehen. Oder hatte sie mich nur deshalb zum Bleiben überredet, weil sie hoffte, ich könnte ihr helfen, Fabienne zurückzulocken? Ich seufzte. Offensichtlich hatte sich mein Misstrauen gegenüber Hanna auch nach fünfundzwanzig Jahren nicht verringert.
Als ich meine Mutter nach dem Leichenschmaus endlich in mein Auto lud, schien sie noch gnädig gestimmt. Huldvoll hatte sie nach allen Seiten gewinkt, bevor sie sich auf den Beifahrersitz sinken ließ. Während sie ihre Jacke ordnete und umständlich den Sicherheitsgurt anlegte, ertappte ich mich dabei, wie ich rasch mit der Hand über das Armaturenbrett fuhr, um den Staubfilm zu entfernen. Glücklicherweise war Thomas erst vor zwei Tagen mit dem Wagen durch die Waschanlage gefahren und hatte auch den Innenraum gesaugt. Aber Mutter fand ja immer etwas auszusetzen. Manchmal wusste ich gar nicht mehr, ob sie mich wirklich ständig mit meiner Schwester verglich – wobei ich natürlich immer schlecht abschnitt. Oder ob mir diese ewigen Vergleiche mit Katharina, die kleinen, feinen Demütigungen über die Jahre hinweg so sehr in Fleisch und Blut übergegangen waren, dass ich Mutters Worte ohnehin hörte, es völlig egal war, ob sie wirklich ausgesprochen wurden oder nicht. Sie waren einfach in meinem Kopf.
Jetzt wurde ich zur Abwechslung mal nicht mit Katharina verglichen, sondern mit Fabienne: Fabienne, die so eine wunderbare Predigt gehalten hatte. Deren Gesicht noch so glatt war wie das eines jungen Mädchens. «Dabei wird sie in ihrem schweren Beruf doch sicher mit viel Leid konfrontiert, meinst du nicht, Marie? Nun, das ist wohl eine Frage der Lebenseinstellung.»
«Oder der Gene», hätte ich mit einem Seitenblick auf die tiefen Falten, die sich bei meiner Mutter rund um Mund und Nase eingegraben hatten, gerne geantwortet. Aber das wäre gehässig gewesen. Und gehässig war ich ja nicht. Leider. Also hatte ich geschwiegen und mir angehört, wie aufmerksam es doch von Fabienne gewesen war, sich nicht gleich neben ihre alten Freundinnen zu setzen, so wie ich, sondern Dorits Mutter beizustehen, wie es sich gehörte. Während ich selbst mit meinem ehemaligen Lehrer herumflirtete, der im ganzen Dorf als Schürzenjäger bekannt sei. Hier endlich hatte ich eingehakt: «Ich habe mit Bernd Wolff nicht geflirtet, Mama, sondern mich unterhalten!»
Meine Mutter hob die Augenbrauen. «Du musst es ja wissen, Marie … Ich hab nur gesehen, wie die Leute getuschelt haben. Kein Wunder, der Wolff schaut nun mal jedem Rock hinterher. Auch wenn er eigentlich nur auf junge Mädchen steht.»
Ich unterdrückte ein hysterisches Kichern. Das hätte ich ja schon fast als Kompliment nehmen können. Ich beschloss, Mutter reden zu lassen und darauf zu hoffen, dass sie mich zu Hause in Ruhe lassen würde. Die Beerdigung, die Begegnung mit Fabienne und Hanna, ja selbst mit Mirko, Peer
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