Die Schatten eines Sommers
doch erst ein paar Zentimeter groß gewesen war. Er war rührselig und lebensuntüchtig, gerade so, als habe er nur nach einem Vorwand gesucht, sich gehenzulassen. Alle Aktivitäten jenseits seines Studiums reduzierte er von Monat zu Monat mehr. Keine Studienfahrten, keine Demos, kein Engagement – nichts mehr. Henning schwebte ein kleines, zurückgezogenes Leben vor, ein Leben ohne den Anspruch darauf, etwas bewegen zu wollen. Nein, er war absolut nicht der Mensch, mit dem ich bis ans Ende meines Lebens hätte zusammenbleiben können. Ein paar Jahre lang versuchten wir es noch. Wir hatten es uns immerhin versprochen, in guten wie in schlechten Zeiten … Aber es ging nicht.
In den Jahren nach Henning hatte ich immer wieder kurze Liebschaften. Mit Männern. Ich stand nicht auf Frauen, wirklich nicht. Was damals zwischen mir und Hanna gewesen war, war eine Ausnahme gewesen. Und dennoch gelang es ihr immer noch, mich zu verunsichern. Etwas, das ich nicht gewohnt war. Als Pastorin verfügt man über eine gewisse Autorität, die die Menschen auf Distanz hält. Aber darüber ging Hanna einfach hinweg. So als wären wir noch immer sechzehn Jahre alt.
Ich saß in dem glühend heißen Wagen und hielt das Handy in der Hand. Hanna. Ich würde nicht vor ihr weglaufen. Ich würde umkehren und an Wolffs Klassentreffen teilnehmen. Und ich würde es nicht nötig haben, ihr von Henning und meiner Ehe zu erzählen. Ich würde nett und freundlich zu Hanna sein, genau wie zu Marie und Peer und Wolff und wer immer da noch auftauchen sollte, mehr nicht. Vielleicht würde ich auch herausbekommen, was man so in Beerenbök über Dorit wusste, über sie und ihren plötzlichen Tod. Was man munkelte und vermutete oder gar beobachtet hatte. Es ist immer besser, in Gewissheit zu leben als in Unwissenheit.
Es waren noch ein paar Stunden rumzubringen, bis neunzehn Uhr. Der Leichenschmaus würde sich bestimmt bald auflösen, und es zog mich ganz gewiss nicht dorthin zurück. Ich fühlte mich klebrig, und die Hitze stieg in mir hoch, als wäre ich schon in den Wechseljahren. Mein Blick fiel auf das Verkehrsschild, das den Weg zum See anzeigte. Ja, das war es: Schwimmen! Die Sachen ausziehen, ins Wasser laufen, kraulen, tauchen und sich treiben lassen … Nein, das
wäre
es – wenn sich die Gedanken an Dorit verbannen lassen würden.
Plötzlich fröstelte es mich. Nein, natürlich würde ich nicht zum See fahren. Weder zum Eutiner See noch zum Lupiner See noch zu irgendeinem anderen. Ich würde zu Tante Hiltrud zurückkehren und mich im Zimmer meines Cousins ins Bett legen. Ein paar Stunden Schlaf, einfach versinken und vergessen und an nichts denken müssen, keine Rede halten, keine Rolle einnehmen, keine Spielchen spielen. Dann würde ich auch wieder die Kraft haben, Hanna und Marie zu begegnen.
Auf dem Weg zurück ins Dorf war ich so müde und erschöpft, dass ich kaum noch die Augen aufhalten konnte. Diese Beerdigung und die Begegnung mit all den Menschen aus der Vergangenheit hatte mich mehr angestrengt, als ich erwartet hatte. Ich fühlte mich so kraftlos wie nach einem Aderlass. Für eine Sekunde mussten mir sogar die Lider zugefallen sein, und ich hätte absolut nicht sagen können, was in dieser Sekunde passierte. Es machte rums!, der Anschnallgurt schnitt mir ruckartig ins Fleisch, als ich nach vorn geworfen wurde, und das Auto stand. Mein Wagen war mit dem rechten Kotflügel gegen einen Feldstein geknallt, zum Glück nicht so heftig, dass der Airbag aufging. Aber immerhin hatte der Schreck meine Müdigkeit verjagt. Ein Unfall – wie überflüssig war das denn!
Ich schnallte mich ab, stieg aus und sah mir die Sache an. Es war kein großer Schaden entstanden, aber der Kotflügel hatte sich so über den Stein geschoben, dass sich der Wagen sicher keinen Zentimeter vor- oder zurückfahren ließ. Hilflos zog ich an dem verbogenen Metall, was natürlich zu gar nichts führte. Das hintere Blech hatte sich geradezu in den Reifen gebohrt. Was für ein Mist. Das war genau das, was ich jetzt überhaupt nicht gebrauchen konnte.
In diesem Moment hielt ein überdimensionierter Geländewagen neben mir, und ich schaute auf. In solchen Wagen sitzen entweder frustrierte Mütter, die ihre Kinder die achthundert Meter zur Schule oder zum Sportplatz kutschieren, oder aber Männer, die gerne zeigen, wie männlich sie sind. Ich hoffte auf Letzteres.
Es war Mirko. Ausgerechnet.
«Na, hallooo, Fabienne!» Er sprach meinen Namen genauso aus, wie Tante
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