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Die Schatten eines Sommers

Die Schatten eines Sommers

Titel: Die Schatten eines Sommers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lia Norden
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und Wolff, mit meiner ganzen Vergangenheit eben, hatten mich aufgewühlt. Ich wollte allein sein und meinen Gedanken nachhängen. Aber natürlich gab Mama keine Ruhe. Kaum waren wir bei ihr zu Hause angelangt, kramte sie ihre Steuererklärung und seitenlange Versicherungsunterlagen heraus, die ich für sie ausfüllen sollte. Seit Jahren übernahm ich derartige Aufgaben für sie. Katharina mit ihrer vielköpfigen Brut und ihrer ach so verantwortungsvollen Arbeit als Ärztin hatte für so was natürlich keine Zeit. Endlich konnte ich mich losreißen und im Badezimmer verschwinden, wo ich mich hastig umzog und neu schminkte. Durch die Hitze war mein Make-up fleckig geworden, meine Lippenfarbe längst verblasst. Mitten in der Bewegung hielt ich inne, mein heller Lippenstift erschien mir plötzlich viel zu dezent, zu langweilig. Kurz entschlossen öffnete ich das Badezimmerschränkchen und wühlte in Mutters Kosmetika. Tatsächlich fand ich einen tiefroten, wenn auch bereits etwas bröseligen Lippenstift. Sorgfältig trug ich die Farbe auf … hmm, gar nicht schlecht. Ich kramte weiter, selbst Eyeliner und Lidschatten besaß meine Mutter. Ich malte und tuschte eifrig, um plötzlich innezuhalten und erschrocken mein Gesicht im Spiegel zu betrachten. Was machte ich da eigentlich? Warum brezelte ich mich derartig auf? – Egal, einfach nicht drüber nachdenken! Nur meiner Mutter wollte ich mit dieser Kriegsbemalung nicht begegnen, ich verspürte keinerlei Lust auf ihre bissigen Kommentare.
    Wie früher als Teenager schlich ich auf Zehenspitzen die Treppe hinunter, die Wohnzimmertür war geschlossen. Gott sei Dank. Ich rief laut «Tschühüs!» und war draußen, bevor meine Mutter reagieren konnte. Ich musste mich zwingen, nicht zu rennen, als ich auf mein Auto zusteuerte und rasch einstieg. Erst an der nächsten Kreuzung hielt ich an und warf einen Blick auf die Uhr. Himmel, erst Viertel vor sieben. Wenn ich jetzt direkt zu Wolff fuhr, würde ich eine der Ersten sein. Zu blöd! Plötzlich fiel mir ein, dass ich mich seit meiner Abfahrt gestern noch gar nicht bei Thomas und Lea gemeldet hatte. Das war mir noch nie passiert! Wenn Thomas mich nicht nach Beerenbök begleiten konnte, rief ich ihn sonst immer an. Allein schon, um ihm von den neuesten Sticheleien meiner Mutter zu berichten und mich trösten zu lassen. Aber dieses Mal war es anders. Ich verspürte keinerlei Sehnsucht nach Thomas. Wenn ich ehrlich war, hatte ich kaum an ihn und Lea gedacht. Meine Vergangenheit hatte mich aufgesogen mit Haut und Haar. Ich war daher fast erleichtert, als bei meinem Anruf der AB ansprang. Rasch sprach ich meine Nachricht: «Hallo, ihr zwei, ich bin’s. Ich wollte euch nur sagen, dass ich noch bis morgen hierbleibe, vielleicht auch bis übermorgen. Macht euch keine Sorgen, mir geht’s gut. Ach so, wenn ihr Hunger habt, in der Tiefkühltruhe müsste noch Pizza sein. Tschühüs.» Erledigt. Ich atmete auf, steckte das Handy ein – und blickte erneut auf die Uhr. Immer noch zu früh. Aber hier im Auto herumzuhocken und die Zeit totzuschlagen, war auch nicht besser, fand ich, und gab entschlossen Gas.
    Ich parkte extra ein Stück entfernt. Als ich auf Wolffs Haus zuging, klopfte mein Herz vor Aufregung. Also wirklich, was war nur mit mir los? Wolff öffnete die Tür. «Marie, wie schön, dich zu sehen!» Er machte einen Schritt auf mich zu, schien einen Moment lang nicht zu wissen, wie er mich begrüßen sollte, und trat dann einfach zur Seite. «Komm doch rein!»
    Seine Unsicherheit tat gut.
    «Bin ich die Erste?»
    «Nein, bist du nicht!» Peer trat lächelnd auf mich zu, eine Kiste Bier in der Hand. «Christian und ich waren die Ersten.»
    «Christian?» Ich durchforstete mein Hirn nach einem Christian in unserer Stufe. Vergeblich.
    «Keine Sorge, du leidest nicht unter frühzeitigem Gedächtnisschwund.» Der Typ, der jetzt hinter Peer auftauchte, grinste mich an. «Ich war eine Stufe unter euch, und die ‹Kleinen› nimmt man ja immer nicht wahr. Ich bin Christian.»
    Ich reichte ihm die Hand. «Marie. Und du …? Ich meine, äh, warst du ein Freund von Dorit?»
    Christian schüttelte den Kopf. «Nein, ich kannte sie nur vom Sehen hier im Dorf. Aber ich, na ja, ich bin Polizist.»
    Plötzlich begriff ich, und mir fiel ein, dass ich sein Gesicht schon auf Dorits Beerdigung gesehen hatte, auch beim anschließenden Kaffeetrinken war er dabei gewesen. Ich schluckte. «Du untersuchst ihren Tod, stimmt’s?»
    Er nickte und lächelte fast

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