Die Schatten eines Sommers
hippen, kreativen Großstadtmenschen zusammen zu sein, die vor allem um ihre eigene Wichtigkeit kreisten.
Je mehr ich trank, desto mehr vergaß ich, dass ich eigentlich hier war, um herauszufinden, warum Dorit gestorben war. Ich schlenderte von einem zum anderen und unterhielt mich prächtig. Nur mit Marie und Fabienne sprach ich nicht. Wir trieben aneinander vorbei wie Boote auf verschiedenen Fahrrinnen. Immer wieder sah ich Marie mit Wolff zusammenstehen. Sie schenkte ihm Lady-Diana-Blicke, mit gesenktem Kopf und Augenaufschlag, und spielte mit ihren Haaren.
Einmal trafen wir uns in Wolffs Küche. Sie holte einen Riesling aus dem Kühlschrank, öffnete ihn geschickt, schenkte sich ein Glas ein und leerte es mit einem Zug zur Hälfte.
«Meine Herren!», meinte ich. «Du verträgst ja wirklich einiges.»
Sie lächelte mich bittersüß an. «Anders ertrage ich Beerenbök dieses Mal nicht. Dorits Beerdigung, unser Wiedersehen nach der langen Zeit, das ist doch alles … absurd.»
Als sie mir eine Haarsträhne hinters Ohr zurückstrich und die Hand in meinen Nacken legte, um mich näher an sich heranzuziehen, merkte ich erst, wie betrunken sie bereits war.
«Du brauchst nicht zu trinken», flüsterte sie mir zu. Sie lallte leicht. «Weil du hassen kannst. Du kannst das einfach. Aber ich … ich will nicht hassen, und manchmal tue ich es trotzdem: Ich hasse meine Mutter. Und meine perfekte Schwester. Und dich. Weil du Dorit auf dem Gewissen hast.»
«Das habe ich nicht, verdammt!», unterbrach ich sie leise.
Marie legte mir die Hand auf den Mund und geriet dabei etwas ins Schwanken.
«Schhhht», machte sie. «Wir sind alle dafür verantwortlich, dass Dorits Leben den Bach runtergegangen ist. Und dass ihre Mutter nur noch ein Schatten ihrer selbst ist. Weißt du, dass sie damals, als der Unfall geschah, genauso alt war wie wir heute? Dreiundvierzig! Mit dreiundvierzig war ihr Leben quasi vorbei – durch unsere Schuld! Dorit hat ihren Teil der Schuld abgetragen, sie hat ihre Mutter gepflegt. Und was haben wir getan? Nichts! Im Gegenteil, du hast Dorit auch noch den Todesstoß versetzt. Du hast ihr das Messer ins Herz gebohrt und es gedreht und gedreht! Du hast es doch geschrieben.»
Sie war betrunken. Aber was sie sagte, erschütterte mich trotzdem. Ich musste mit Fabienne sprechen. Sie würde die Dinge wieder ins rechte Licht rücken.
Es war schon ziemlich spät, als ich Fabienne endlich einmal alleine auf der Terrasse stehen sah. Sie ließ ihren Blick über die Anwesenden schweifen und nippte an ihrem Weinglas. Ich schlich mich von hinten an sie heran und drückte ihr einen Kuss auf den Hals. Augenblicklich versteifte sie sich. Ich war beschwipst genug, um das alte Spielchen neu zu beginnen. «Mach dich locker!», raunte ich ihr ins Ohr. Bevor sie mir antworten konnte, tauchte Annkathrin vor uns auf.
«Hanna, entschuldige bitte, ich muss Fabienne mal schnell entführen. Wir haben da drüben ein Thema am Wickel …» Mit einem Ruck entzog sie mir Fabienne und führte sie fort.
Die Einzigen, mit denen ich – abgesehen von Fabienne und Marie – an diesem Abend noch kein Wort gewechselt hatte, waren Peer und sein unbekannter Freund, den er mitgebracht hatte. Sie lümmelten nebeneinander auf zwei Gartenliegen und hatten eine Batterie leerer Bierflaschen um sich herum stehen. Als ich zu ihnen trat, sprang Peer auf, zog mir einen Stuhl heran und stellte mir seinen Freund vor.
«Christian. Er war in der Klasse unter uns. Aber er hat immer mit uns Jungs rumgehangen.»
Christian sah mein ratloses Gesicht und grinste schief. «Du erinnerst dich nicht an mich. Kein Problem. Ich war zu klein für euch.»
Er und Peer wirkten wie Brüder. Gleich groß, kräftige Statur, breite Schultern, blonde Haare und freundliche, offene Gesichter.
«Und, was machst du so?», fragte ich ihn.
«Polizei», antwortete er. «Kreispolizei. Beerenbök und drum herum.»
«Oh!», sagte ich. «Hast du denn auch etwas mit … also, mit Dorit … ich weiß ja nicht, ob die Polizei da überhaupt …»
Christian nickte. «Doch. Klar. Das sind ungeklärte Todesumstände. Da mache ich mir natürlich Gedanken.»
Ich musste mich unglaublich zusammenreißen, um gelassen zu bleiben.
«Was meinst du mit ‹ungeklärt›?»
«Keine eindeutigen Hinweise auf das eine oder das andere eben. Es kann Selbstmord sein, ein Unfall oder Mord.»
«Mord?! Glaubst du, es war Mord?»
Christian zuckte mit den Schultern. «Ich glaube jedenfalls nicht, dass
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