Die Schatten eines Sommers
…»
«Genau», sagte Hanna leise. «
Wenn
.»
Jetzt verstand ich. Hanna und ich hatten es in der Hand. Nur sie und ich.
Ich zögerte. «Und du meinst, Dorit nutzt es sowieso nichts mehr, wenn wir jetzt darüber sprechen?», fing ich vorsichtig an.
Hanna stieß den Rauch ihrer Zigarette aus. «Es nutzt niemandem, Marie!»
Ich senkte den Blick. Hanna hatte recht. Was würde geschehen, wenn wir jetzt auspackten? Dorits Tod hatte alles noch schlimmer gemacht, als es ohnehin schon war! Die Folgen unserer damaligen Intrige waren fatal genug gewesen. Wenn jetzt alles wieder aufgerollt würde … Wenn bekannt würde, dass ein Mensch umgekommen war, als eine von uns versucht hatte, unsere Schuld zu vertuschen. Dann würden wir zweifellos noch mehr am Pranger stehen. Die Geschehnisse von damals würden eine neue Aktualität und Dramatik bekommen. Noch mehr, wenn Fabienne tatsächlich angeklagt würde. Eine Pastorin! Ein Mensch mit Vorbildfunktion, eine moralische Instanz …! Dazu Hanna als bekannte Autorin. Die Medien würden sich wie Hyänen auf die Geschichte stürzen. Es würde kein Entrinnen geben.
Thomas würde alles erfahren. Er, der mich immer für einen besonders ehrlichen, anständigen Menschen gehalten hatte. Und Lea … Ich mochte mir ihren Abscheu vor dem, was ihre Mutter getan hatte, als sie ähnlich alt war wie sie selber, gar nicht vorstellen. Nein, all das durfte nicht geschehen!
Ich sah Hanna an. Hatte sich in den letzten Minuten in ihrem Kopf ein ähnliches Szenario abgespielt wie bei mir? Ich konnte es nur hoffen, denn mit einem Mal wusste ich ganz genau, was ich wollte. Und vor allem, was
nicht
. «Ich … ich will nicht erklären müssen, was nicht zu erklären ist – und alles kaputt machen.» Ich schluckte, ja ich schämte mich für meine Schwäche, aber so war ich eben. Meine Stimme klang fast trotzig. «Ich will nach Hause, einfach nach Hause und mein Leben weiterleben. So wie es war. Und du?»
Ich mied Hannas Blick, während ich auf ihre Antwort wartete. Für einen Moment schien es völlig ruhig um uns herum zu werden.
Hanna drückte ihre Zigarette aus, nickte kurz und nahm meinen Arm. «Dann sind wir uns ja einig …»
[zur Inhaltsübersicht]
FABIENNE
Ich war um neun Uhr mit Mirko vor der Werkstatt verabredet. Aber das sinnlose Gespräch mit Hanna und Marie hatte mir die Ruhe geraubt. Ich war nicht in der Stimmung, noch länger in Tante Hiltruds Vorgarten zu sitzen und auf den Morgen zu warten. Ich würde meinen Koffer nehmen, zur Werkstatt gehen und mir den Wagen holen. Es war sicher kein Problem, die Reparatur später per Überweisung zu bezahlen. Einer Pfarrerin würde ja wohl niemand unterstellen, sich vor dem Bezahlen drücken zu wollen.
Ich hatte Glück. Mirkos Freund hatte den Schlüssel im Zündschloss stecken lassen. Und so hinterließ ich eine kurze Notiz an der Tür der Werkstatt, setzte mich ans Steuer und fuhr vom Hof.
Als ich an der alten Post vorbeikam, hatte die Feuerwehr bereits ihre Schläuche eingerollt, und die Schaulustigen waren auf dem Rückzug. Es war ja auch nichts mehr zu sehen außer ein paar verkohlten Brettern und einem wassergetränkten Garten. Selbst für Beerenböker Verhältnisse war das kein wirkliches Ereignis. Neben dem Löschwagen stand Christian. Ich hielt kurz an und nickte ihm durch das offene Fenster zu.
«Was ist passiert?»
«Das Ruderboot ist abgebrannt», antwortete er, und in seiner Stimme schwang Verbitterung.
«Du liebe Güte», sagte ich. «Was hat das zu bedeuten?»
Er zuckte die Schultern.
«Tja, also dann …» Ich zögerte einen Moment, winkte ihm kurz zu und startete den Motor. Es war Zeit, nach Hause zu fahren, wo meine Arbeit schon viel zu lange liegen geblieben war.
Während im Osten die Sonne über die Backsteinhäuser Beerenböks stieg und einen neuen strahlenden Sommertag verkündete, ließ ich den Ort rasch hinter mir, ohne noch einmal in den Rückspiegel zu blicken. Was hat es für einen Sinn zurückzuschauen, wenn noch so viel vor einem liegt?
[zur Inhaltsübersicht]
HANNA
Es nutzt niemandem. Es nutzt niemandem. Es nutzt niemandem. Im Nachhinein hatte ich das Gefühl, die ganze Heimfahrt über nur um diesen einen Satz gekreist zu sein: Es nutzt niemandem, alles zu offenbaren.
Dorit war tot.
Wer war Fabienne? Hatte sie Dorits Tod geplant, oder war er ein Zufall gewesen? Glaubte sie an einen gnädigen Gott, der ihr alles verzeihen würde? War sie in der Lage, noch einmal zu töten? Und Marie? Würde sie ihr
Weitere Kostenlose Bücher