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Die Schatten eines Sommers

Die Schatten eines Sommers

Titel: Die Schatten eines Sommers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lia Norden
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drehte sie sich zu mir um. «Nun komm schon. Wir fahren zu unserer Insel. Du musst mir sagen, was ich tun soll. Ich kann doch jetzt nicht mehr schweigen, jetzt, wo Hanna dieses Buch geschrieben hat. Wir müssen doch endlich zu dem stehen, was passiert ist, oder nicht?»
    Und so stieg auch ich in das Boot. Ich ließ mich von Dorit zu der kleinen Insel in der Mitte des Sees rudern. Während sie hektisch und ungelenk die Ruder durch das Wasser zog und immer mehr außer Atem geriet, hörte ich ihr zu. Ein böiger Wind war aufgekommen, der Vorbote eines Sommergewitters, und ich verstand nicht jedes ihrer Worte. Aber eines wurde immer deutlicher. Sie wollte das Schweigen brechen, so wie Hanna.
    Als sie das Boot mit einem letzten Ruderschlag auf den Sand der Insel auffahren ließ, fühlte ich mich leer und kraftlos. So, als wäre ich gerudert und nicht Dorit. Ich folgte ihr, während sie sich schwer atmend durch das wilde Gestrüpp der Insel zwängte. Sie wollte den Feenstein finden, sagte sie, den Stein, neben dem wir damals unsere Wünsche vergraben hatten.
Hexenstein
hatte Hanna ihn in ihrem unseligen Roman genannt. Und während ich in der Hitze dieses Nachmittags stumm hinter Dorit herging, stieg eine schwelende Wut in mir auf. Hanna! Sie war an allem schuld! Ich hasste sie plötzlich so sehr, dass mir schwindelig wurde. Hanna hatte mich so weit gebracht, dass ich mit Dorit über diese gottverlassene Insel stapfte, anstatt zu Hause an meinem Schreibtisch zu sitzen und meine Arbeit zu tun. Hanna! Sie hatte sich ihren Ruhm erschrieben mit ihrem Schund, während mein Erfolg, mein schwer erarbeiteter Erfolg, durch ihren Egoismus zerstört wurde. Alles, was ich mir aufgebaut hatte, alles, was die Zukunft bringen sollte, würde in sich zusammenstürzen, wenn Dorit wahr machte, was sie in ihrem dummen Kopf ausbrütete. Die Vergangenheit wieder aufleben lassen, die Wahrheit ans Licht bringen, das Schweigen brechen, Zeugnis ablegen, die richtigen Namen nennen.
    Sie hatte den Stein gefunden. Es war ein grünlicher, mit Moos bedeckter Stein, der weder einer Fee noch einer Hexe glich, sondern nur ein hässlicher, nichtssagender Brocken war. «Da ist er!», rief sie. Als sie sich zu mir umdrehte, lag so etwas wie Verzückung auf ihrem erhitzten Gesicht. «Ich weiß nicht mehr, was ich mir gewünscht habe», murmelte sie. Sie kniete sich nieder in ihrem durchgeschwitzten Sommerkleid und fing an zu graben.
    «Es geht nicht anders, Fabienne, es geht nicht anders, ich weiß es jetzt genau», hörte ich sie sagen. Eine hysterische, wilde Entschlossenheit hatte sie gepackt, und ich wusste, dass sie wahr machen würde, was sie vorhatte. Sie würde nicht aufgeben, bevor sie nicht die alte Keramikdose gefunden hatte. Sie würde alles ans Licht zerren. Es war ihr egal, ob sie ihr eigenes armseliges Leben damit vollends zerstörte. Ihr Leben und meins.
    Ich drehte mich um und ließ sie dort hocken. Nein, ich würde Dorits wahnsinnige Eskapaden nicht mitmachen. Dorits nicht und Hannas noch viel weniger. Ich hatte genug von dieser ganzen Sache. Ich würde gehen.
    Erst als ich auf halbem Weg zum Boot war, schien Dorit zu merken, dass ich ihrem unsinnigen Tun nicht mehr zuschaute. «Willst du schon zurück, Fabienne?» Sie tauchte zwischen den krüppeligen Weiden der Insel auf, ihr Gesicht noch roter und glühender als zuvor.
    Ich antwortete nicht. Ich ging weiter, schob das Boot ins Wasser, watete in den See und stieg ins Boot. Es schwankte heftig, und eine Sekunde lang sah ich mich fallen. Doch alles ging gut, und ich griff nach den Rudern.
    «Nun warte doch, Fabienne!», hörte ich Dorits hohe Stimme.
    Als ich das Boot gewendet hatte, war sie fast schon am Ufer. Sie schwenkte eine schmutzige braune Dose durch die Luft. «Ich hab sie gefunden!»
    Ich begann zu rudern und ließ sie dort stehen mit der Dose in der Hand. «Nun warte doch!», wiederholte sie und kam näher. Sie streifte die Sandalen von den Füßen und testete mit den nackten Zehen das Wasser, eine völlig überflüssige Aktion.
    «Wo willst du denn hin?», fragte sie. «Du kannst mich doch hier nicht zurücklassen!»
    Ich tat ein paar kräftige Züge, und das Boot nahm an Geschwindigkeit zu. Jetzt ging sie tiefer ins Wasser, immer noch die alte Dose in der Hand, die Dose mit unseren kindischen Wünschen, die wahrscheinlich mittlerweile zu Staub zerfallen waren. Und während ich schnell und schneller ruderte, begann sie zu schwimmen, erst halbwegs ruhig, dann immer hektischer.
    Sie

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