Die Schatten eines Sommers
allerbester Ordnung. Fabienne war verrückt! Warum hatten wir so lange gebraucht, um das zu merken?
Was ich ihr alles anvertraut hatte …, weil ich sie für besonders verständnisvoll und integer hielt. Wie hatte ich mich nur derartig irren können?
«Sie war es!», stieß Hanna tonlos hervor. «Sie hat den Brand gelegt und … und …» Ihre Stimme stockte. «Sie hat Dorit umgebracht! Weil Dorit reden wollte, über uns, über damals!»
Ich verlangsamte den Schritt, versuchte ruhig zu atmen. «Vielleicht war es auch ein Unfall und …»
«Ein Unfall?!» Hanna blieb stehen. «Marie!»
«Aber warum denn nicht?», fragte ich vorsichtig. Plötzlich erschien es mir unheimlich wichtig, Hanna von dieser Möglichkeit zu überzeugen. «Vielleicht hat Fabienne ja gar nicht mitgekriegt, dass Dorit Probleme im Wasser hatte, und als sie ihr helfen wollte, da war es zu spät.» Ich zuckte hilflos die Achseln. «Na, oder so ähnlich eben.»
«Das glaubst du nicht wirklich», sagte Hanna leise.
Nein, das glaubte ich natürlich nicht. Aber es war theoretisch möglich. Spielte es denn eine Rolle, was ich dachte? Machte es einen Unterschied, dass ich mir nur zu gut vorstellen konnte, was an jenem Nachmittag geschehen war? Dass Dorits hysterische Stimme über den See geschallt war: «Lass uns endlich reinen Tisch machen, Fabienne! Lass uns die Wahrheit sagen, allen! Ich bin sicher, es wird uns befreien! Schau, Hanna hat mit ihrem Buch doch schon den Anfang gemacht. Das war doch ein Zeichen, ein klares Zeichen dafür, dass auch sie nicht länger schweigen will, erkennst du das denn nicht?»
Bestimmt hatte Fabienne auf Dorit eingeredet, genau wie ich ein oder zwei Wochen zuvor am Telefon. Ja, auch Fabienne hatte versucht, Dorit von ihrem Plan abzubringen. Wahrscheinlich war sie am Anfang noch freundlich und gelassen gewesen, sicher, Dorit in ihrem Sinne manipulieren zu können, so wie es früher gewesen war. Aber irgendwann an jenem unglückseligen Nachmittag musste sie gespürt haben, dass Dorit sich nicht beruhigen ließ. Von ihr nicht. Und von niemand anderem. Dorit wollte reden! Und keine Macht der Welt würde sie davon abhalten können. Denn Dorit hatte nicht viel zu verlieren. Im Gegensatz zu Fabienne. Für sie wäre mit Dorits öffentlicher Beichte alles vorbei gewesen: ihre berufliche Reputation, ihre kurz bevorstehende TV -Karriere, ihr Ruf als moralische Instanz – alles.
Natürlich hatte Fabienne Dorits Tod nicht geplant. Wahrscheinlich hatte sie Dorit nicht einmal berührt. Nein, wenn Dorit gewaltsam unter Wasser gedrückt worden wäre, hätte es Spuren gegeben, irgendwas hätte die Polizei doch gefunden, oder nicht? Nein, Dorit war aus welchen Gründen auch immer voll bekleidet in den See gegangen, wahrscheinlich war sie völlig außer sich gewesen über Fabiennes Weigerung, sie zu unterstützen.
Dorit hatte keinen Boden mehr unter den Füßen gehabt, Wasser geschluckt, um Hilfe gerufen – und irgendwann, als sie merkte, dass Fabienne keine Anstalten machte, sie zu retten, war die Panik gekommen und das Asthma –, ihre nassen Kleider hatten sie nach unten gezogen, ihre Kräfte schwanden … Wie lange mochte es gedauert haben, bis Dorits Rufe endgültig verstummt waren? – Ich schüttelte den Kopf, so heftig, als könne ich den Film, der in meinem Hirn ablief, auf diese Weise stoppen.
Erst jetzt merkte ich, dass Hanna mich fragend ansah. Sie schien auf eine Antwort zu warten. Ich wandte mich ihr zu. «Entschuldige, was hast du gesagt?»
Hanna kramte eine Zigarette aus ihrer Tasche und zündete sie an. Ihre Hände zitterten. «Was machen wir jetzt?»
Ich versuchte mich zu sammeln, aber es ging nicht. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. «Es ist alles so … unwirklich, findest du nicht? Wie ein Albtraum. – Verdammt, wäre ich doch nie hergekommen!» Ich holte Luft. Wir durften nichts überstürzen! Wir mussten ganz in Ruhe nachdenken, überlegt handeln. Ich sah Hanna an. «Im Grunde wissen wir doch wirklich nicht, was am See geschehen ist. Fabienne hat nichts zugegeben, die Brandstiftung, noch die … die Sache mit Dorit.» Ich machte eine Pause. «Selbst, wenn wir mit Christian sprechen, ihm den Anhänger zeigen. Man wird ihr nichts beweisen können … und vielleicht … vielleicht hat sie ja nicht wirklich …»
Hanna nickte langsam. «Zumal es kein Motiv gibt …»
Ich sah sie überrascht an. «Aber natürlich gibt es das: Wenn wir erzählen, was damals passiert ist, was wir getan haben
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