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Die Schatten eines Sommers

Die Schatten eines Sommers

Titel: Die Schatten eines Sommers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lia Norden
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konnte mich nicht einholen, nicht mit der idiotischen Dose in den Fingern, die sie nicht losließ. Erst als wir weit vom Ufer entfernt waren und ihre Rufe in asthmatisches Keuchen übergegangen waren, das immer hysterischer und heftiger wurde, schien sie das Ding aufzugeben. Ich ahnte es mehr, als dass ich es sehen konnte. Ich hob den Blick vom Wasser und ließ ihn über die Insel schweifen. Ich wollte Dorit nicht sehen, die arme, dumme Dorit. Ich wollte ihren pfeifenden Atem nicht hören, ihre Rufe, «Fabienne, Fabienne!», ihr Flehen und Schreien, das Platschen der Wellen, das ihre sinnlos zappelnden Arme wohl verursacht haben mussten. Die plötzlich eintretende Stille. Ich wollte all das einfach nur hinter mir lassen.
    Als ich am anderen Ufer ankam, schaute ich zurück. Glatt und friedlich lag der See in der Hitze dieses Nachmittags. Ich stieg aus dem Boot und gab ihm einen Schubs, sodass es auf den See zurücktrieb. Ein Psalm aus dem Alten Testament kam mir in den Sinn. Ein Satz, der auch mich jetzt friedlich stimmte.

    Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.

[zur Inhaltsübersicht]
    HANNA
    Von der Straße her hörten wir aufgeregte Rufe – die Beerenböker waren auf dem Weg zum Feuer. Aber wir drei standen vor dem Haus der Tante wie unter einer gläsernen Kuppel, abgeschlossen vom Rest der Welt.
    Fabienne lächelte, als sie sich Marie und mir wieder zuwandte. Sie strahlte Ruhe aus und Gelassenheit. Ihr Lächeln war zuversichtlich und tröstend. Es war zu schön, um wahr zu sein.
    «Vielleicht», sagte sie, «war ich noch vor euch da. Ich könnte versucht haben, den Brand zu löschen. Richtig?»
    Eine kurze Zeitlang in meinem Leben hatte ich in einem Sportverein geboxt. Ein grandioses Ventil für meinen unterdrückten Zorn auf zu vieles und auf meine schlechten Romane. Ich hatte das Boxen aufgegeben, meine Lunge machte es nicht mehr mit. Aber einmal hatte ich doch noch zugeschlagen – bei einem Liebhaber, dem ich mit einem Schlag das Nasenbein brach, als er mich verließ. Es war reichlich Blut geflossen. Nie wieder hatte mich seitdem jemand so sehr gereizt wie Fabienne mit ihrer Antwort. Noch heute fühle ich die heiße, körperliche Wut, die sie in mir aufsteigen ließ. Woran es lag, dass ich nicht zuschlug, sondern nur auf sie zustürzte und ihr einen Stoß gab? Es gab nur einen Grund: Ich wollte einfach nicht glauben, was ich vermutete.
    Fabienne wankte und ließ sich geschickt auf die Gartenbank fallen.
    «Erzähl uns keinen Scheiß!», brüllte ich sie hilflos an.
    Sie schüttelte nachsichtig den Kopf und legte den Finger auf die Lippen. «Scht! Nicht so laut.»
    Marie schlug die Hand vor den Mund. «Nicht», flüsterte sie entsetzt. «Fabienne! Das hast du nicht wirklich getan, oder? Das hast du nicht? Das hast du doch nicht, oder?»
    «Wirklich, ihr solltet euch sehen.» Fabienne blickte uns tadelnd an. «Ihr seid ja völlig aus der Fassung. Das ist nicht gut. Denkt an Dorit. Man muss einen kühlen Kopf behalten. Sonst gerät alles außer Kontrolle.»
    Als Marie leise zu schluchzen begann, gewann ich die Beherrschung wieder. Ich hatte noch nie mit den Tränen anderer umgehen können. Sie froren meine Gefühle ein. Ich machte mich gerade, straffte die Schultern und als ich ruhig zu sprechen begann, kam ich mir unwirklich vor.
    «Hat sie den Kopf verloren, ja? Ihr zwei so ganz allein am See, und dann gerät Dorit plötzlich außer sich. Und ertränkt sich. So war das? Ja?»
    «Sei nicht albern.» Fabienne strafte mich mit einem empörten Blick. «Sie war hysterisch. Da sollte man nicht schwimmen gehen. Und wenn man dann noch Asthma hat … Es tut mir leid – aber das war dumm. Wirklich.»
    Mein Herzschlag rauschte in meinen Ohren, wie die Wellenbrandung am Strand, und füllte das Schweigen zwischen uns. Ich konzentrierte mich darauf, dort zu stehen, wo ich stand, denn etwas anderes gab es nicht zu tun.
    «Wir gehen jetzt. Komm, Hanna. Wir gehen.» Marie wisperte es sanft, wie eine Mutter, die ihr schlummerndes Kind am Ende einer Familienfeier aufwecken und nach Hause bringen muss. Ich folgte ihr widerspruchslos, als sie mich behutsam unterhakte und zur Straße führte. Einmal noch blieb ich stehen und sah zurück. Fabienne saß auf der Bank und hob die Hand zu einem Abschiedsgruß.

[zur Inhaltsübersicht]
    MARIE
    Ich wandte mich ab und zog Hanna hinter mir her. Ich wollte nur weg, weg von Fabienne, die selbstzufrieden dasaß und uns so ruhig nachsah, als sei die Welt in

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