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Die Schatten von Belfast

Die Schatten von Belfast

Titel: Die Schatten von Belfast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stuart Neville
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bückte sich und holte es heraus. Es war ein langes, flaches, schwarz lackiertes Holzkästchen von der Art, wo man vielleicht Schmuck aufbewahrte. Campbell setzte sich auf den Bettrand und machte es auf.
    Briefe, sämtlich ungeöffnet, alle mit dem Poststempel »HM Prison Maze« und dem Vermerk »Zurück an Absender«. Campbell blätterte sie durch, insgesamt waren es zwölf. Der jüngste lag obenauf. Campbell zögerte nur eine Sekunde, dann riss er ihn auf.
    Es war eine Seite in einer kleinen, säuberlichen Handschrift. Die Wörter, selbst die einzelnen Buchstaben und Abstände sahen so unglaublich gleichförmig aus, als habe der Verfasser Angst gehabt, etwas von sich selbst preiszugeben. Der Brief war auf den 14. Dezember 1997 datiert. Das war jetzt etwas über neuneinhalb Jahre her. Campbell hielt beim Lesen den Atem an.
     
    Liebe Mutter,
    Pater Coulter war heute zu seinem üblichen Besuch da. Er hat mir erzählt, dass Du sehr krank bist. Er sagte, Du hast Krebs. Ich habe meinen neuen Psychologen D. Brady gefragt, und er hat mir gesagt, wenn ich sie frage, lassen sie mich womöglich raus, damit ich Dich besuchen kann.
    Bitte lass mich Dich besuchen. Es tut mir leid, was ich getan habe. Es tut mir leid, dass ich Dich im Stich gelassen habe. Ich weiß, dass Du Dich für mich schämst. Das kann ich Dir nicht verdenken. Ich schäme mich ja selbst. Bitte lass mich kommen und Dich besuchen. Wenn ich ungeschehen machen könnte, was ich getan habe, würde ich es tun. Ich weiß, Du hast ein barmherziges Herz. Ich hatte kein barmherziges Herz, als ich diese Dinge getan habe, aber jetzt habe ich es.
    Bitte hab Erbarmen mit mir. Bitte lass mich Dich sehen, bevor Du noch kränker wirst. Dein Sohn, Gerald.
     
    Campbell schloss für einige Sekunden die Augen. Er befühlte die Struktur des Papiers zwischen seinen Fingern, hörte auf das Schlagen seines eigenen Herzens. Dann machte er die Augen wieder auf, faltete den Brief zusammen und schob ihn zurück in den Umschlag. So gut es ging, wischte er mit einer Fingerspitze die Träne ab und legte den Brief wieder in das Kästchen. Das Kästchen schob er ordentlich zurück in die hinterste Ecke des Schranks, ins Dunkle, wo man es nicht sah.
    »Mist«, entfuhr es ihm, als das Vibrieren seines Telefons ihn hochschrecken ließ. Er zog es aus der Tasche und schaute aufs Display. »Nummer unterdrückt.« Das konnte jeder sein. Er wählte sich bis zur Antwortfunktion durch und hob das Telefon ans Ohr.
    »Was gibt’s?«
    »Wir haben ihn gefunden«, sagte Patsy Toner.

»Das war’s «, sage der junge Mann und ließ den Schwamm in den Eimer fallen. »Nicht absolut perfekt, aber Sie wollten ja, dass es fix geht.«
    Fegan drückte dem Burschen mit dem Aknegesicht zwei Zwanzig-Pfund-Scheine in die Hand. »Danke.«
    »Alles in Ordnung, Kumpel?«
    Fegan schob die zitternden Hände in die Taschen. »Mir geht’s prächtig«, sagte er und wandte sich seinem Wagen zu.
    Rallyestreifen hießen die Dinger. Zwei lächerliche weiße Bänder, die vom Bug des Clio über die Motorhaube, weiter übers Dach und dann die Heckklappe hinunterliefen. Angeblich sollten sie sportlich aussehen, aber Fegan fand sie einfach nur affig, allerdings auch nicht affiger als die an den anderen Kleinwagen, die vor Antrim Motor Kit standen. Alle hatten sie Spoiler und waren entweder höher- oder tiefergelegt, und alle wurden sie von pickeligen Jungs mit Baseballmützen gefahren.
    Fegan hatte an einem Schönheitssalon an der Küste angehalten und von einem anderen grünen Clio die Nummernschilder abgeschraubt. Die waren inzwischen mit Klebeband, das er in einem Laden in Ballymena gekauft hatte, über denen von Marie befestigt. Nur ein überaus aufmerksamer Polizeibeamter hätte den Wagen jetzt noch als den erkennen können, der einer verschwundenen Frau gehörte.
    Vor zehn oder fünfzehn Jahren wäre es noch unmöglich gewesen, von der Küste weg durch zwei große Städte bis nach Belfast zu fahren, ohne auf eine Straßensperre zu stoßen. Mit Sicherheit hätte es auf Fegans Strecke einen Kontrollpunkt der Armee oder der Polizei gegeben, aber diese Zeiten waren vorbei. Wie oft war er nicht von den Briten oder der UDR aus einem Wagen gezerrt und am Straßenrand durchsucht worden, während Uniformierte das Innenleben des Fahrzeugs auseinandernahmen. Die jungen Männer in ihren aufgemotzten Kisten wären empört gewesen, wenn ihnen so etwas je widerfahren wäre, dabei war es für ihre Väter, ob nun Protestanten oder Katholiken,

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