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Die Schatten von Belfast

Die Schatten von Belfast

Titel: Die Schatten von Belfast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stuart Neville
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an die flehenden, entsetzten Augen des Mädchens. Tränen brannten auf seinen Wangen. »Ich konnte ihr nicht helfen. Ich konnte es nicht verhindern.«
    »Nein, du hattest nicht mal den Mumm, dazubleiben und zuzusehen. Du bist weggerannt. Du warst schwach. Sie war eine Verräterin, der niedrigste Abschaum auf der Welt. Eine, die sich gegen ihr eigenes Volk gewandt hatte. So wie du, Gerry. Und für Verräter gibt es keine Gnade.«
    O’Kane streckte die Hand aus und wischte Fegan die Tränen ab. »Keine Gnade, Gerry. Weder damals, noch heute.«
    Die Frau ergriff Fegans Hand, ihre Finger waren kühl und weich. Er drehte sich zu ihr um und sah, dass sie ihn anlächelte. In ihren Augen stand die Trauer. Der Säugling auf ihrem Arm war ruhig.
    »Es tut mir leid«, sagte er. Sie nickte.
    O’Kane machte einen Schritt zurück. »Es ist so weit, Gerry.« Fegan spürte die doppelläufige Flinte in seinem Rücken. Er schloss die Augen, und die Finger der Frau entglitten seiner Hand.

Bleib wach!
    Mit jeder Faser seines Willens konzentrierte sich Campbell nur auf diese eine Sache, diese eine Aufgabe. Danach musste er an das mit Klebeband an seinem Unterschenkel befestigte Messer gelangen, die Klinge öffnen und auf die Füße kommen. Wenn er diese drei einfachen Dinge hinbekam, blieb er vielleicht am Leben.
    Aber da waren die Qualen.
    Durch den letzten höllischen Schmerz, der ihn durchzuckt hatte, als sie ihn auf die Plastikfolie gelegt hatten, war er wieder halbwegs zu Bewusstsein gekommen. Jetzt taumelte er auf dem Scheitel zwischen Wachsein und Ohnmacht, und nur der Schmerz verhinderte, dass er wieder in den Nebel zurückdriftete. Er wusste, jede Bewegung würde das schwelende Feuer in seinem Brustkorb neu entfachen und die Qualen würden unerträglich sein. Aber die musste er ertragen. Wenn er aufschrie, bevor er es geschafft hatte, würde er nicht überleben.
    Sein Hirn wummerte gegen die Schädeldecke, und seine Augen versuchten die verschwommenen Silhouetten vor ihm irgendwie einzuordnen. Wie viele waren es? Er war sich nicht sicher. Sein Sehvermögen reichte nicht aus. Der eine direkt vor ihm allerdings, dessen Füße da vor seinem Gesicht herumschlurften, das war Coyle.
    Campbell bewegte den Kopf nicht, sondern ließ nur die Augen an Coyle hochwandern, von der Rückseite der Waden über die Schenkel bis hoch zum Hosenbund. Da, eine Pistole. Klein zwar, aber sie würde reichen.
    Und was sollte er damit anstellen?
    Denk nach.
    Denk nach!
    Er fiel wieder zurück in die Dunkelheit.
    Wer waren diese Männer, die über ihm standen und mit den Fingern auf seinen Kopf zeigten?
    Er fiel immer weiter. Nein, komm zurück!
    Er nahm einen Atemzug, und der explosionsartige Schmerz fegte die letzten Nebel davon. Campbell hielt die Luft an. Jetzt oder nie. Zur Hölle mit den Schmerzen. Er biss auf die Zähne.
    Jetzt.

Der verzweifelte Schrei gellte bis in die Dachsparren der Scheune hinauf. Fegan merkte, dass die Mündung der Schrotflinte von seinem Kopf wegruckte. Er machte die Augen auf. Mit einer Hand hatte Campbell Coyle ein Messer an den Hals gesetzt, die andere hielt eine kleine Pistole. Beide Männer taumelten wie in einem langsamen, ungleichen Tanz, während der Schotte versuchte, im Gleichgewicht zu bleiben. Seine Augen rollten unkontrolliert hin und her wie bei einem Betrunkenen. Coyle hatte den Mund aufgerissen, doch der Schrei war nicht von ihm gekommen.
    Campbell zielte mit der Waffe auf alles und nichts, auf die Luft, manchmal auf einen Schatten, manchmal auf einen Leib. »Bleibt, wo ihr seid!«
    Downey schob sich an Fegan vorbei und zielte mit der Schrotflinte auf die beiden schwankenden Männer.
    O’Kane hob die Hände. »Jetzt mach doch keinen Quatsch, Davy.«
    Campbell richtete die Waffe dorthin, von wo die Stimme gekommen war, aber seine Augen schienen auf etwas weit dahinter Liegendes gerichtet zu sein. »Bleibt, wo ihr seid, sonst schneide ich ihm die Kehle durch.«
    Pädraig wollte Campbell von der Seite her angreifen, aber der Schotte drehte sich ihm zu. »Zurück!«
    Pädraig machte auf der linken Seite noch einen Schritt auf Campbell zu, und der Schotte drückte einmal, zweimal, dreimal ab. Der erste Schuss traf nur die Luft, aber der zweite durchschlug Padraigs Schulter und der dritte seinen Hals. Pädraig blieb noch einen Moment stehen, den Mund überrascht aufgesperrt. Blut quoll ihm über die mächtige Brust und tröpfelte auf die Folie.
    »Da?« fragte er, seine Stimme war nur noch ein heiseres Gurgeln.

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