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Die Schatten von Belfast

Die Schatten von Belfast

Titel: Die Schatten von Belfast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stuart Neville
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nicht viel.
    Nachdem er die Formalitäten erledigt hatte, begann McGinty seine Rede.
    »Kameraden«, rief er im bewusst beibehaltenen Akzent von West-Belfast, »auch ohne die Nachricht, die wir gestern Abend erfahren mussten, wäre heute schon ein trauriger Tag. Aber er wird umso trauriger durch das Dahinscheiden von Vincent Caffola, einem unermüdlichen Arbeiter am Wohle der Gemeinschaft und Würdenträger der Partei. Und zu diesem seinen Dahinscheiden habe ich einiges zu sagen, doch zunächst möchte ich dem Manne meinen Respekt zollen, den wir heute zu Grabe tragen. - Michael McKenna war ein großer Mann.« McGinty legte eine Pause ein und ließ seine blauen Augen über den Friedhof schweifen, über den jetzt Applaus und vereinzelte Hochrufe plätscherten. »Michael McKenna war ein großer Mann, weil er an den Kampf für Gerechtigkeit und Gleichheit auf dieser Insel glaubte. Und jeden einzelnen Tag in seinem Leben hat er für diese Gerechtigkeit und Gleichheit gekämpft. Für alle, die ihn kannten, ist es eine Tragödie, dass er dieses Ziel schon so nah vor Augen hatte, als ihm sein Leben geraubt wurde.«
    Ein greller, glühender Schmerz explodierte in Fegans Schädel. »Herrgott noch mal«, zischte er.
    Ein paar Köpfe wandten sich zu ihm um.
    »Herrgott! Nicht jetzt!«
    Einer der Trauenden, ein stämmiger Mann Mitte zwanzig, wandte sich um und starrte ihn finster an. Fegan starrte zurück, bis der Glotzer sich wieder umdrehte.
    Er schloss die Augen und atmete tief durch, um sich gegen den Schmerz und die Schatten zu stemmen. Beinahe wäre ihm ein Schrei entfahren, als er die Augen wieder aufmachte und das Aufblitzen eines aschblonden Schopfes erhaschte. Er wandte den Kopf in die Richtung und suchte. Da, noch ein Aufblitzen zwischen den schwarzgekleideten Leibern. Fegan beobachtete, wie sie zwischen ihnen heraustrat. Ihr Gesicht schimmerte im Frühlingslicht. Der leichte Wind zauste an ihrem Haar, und sie strich es sich mit ihrer zarten Hand wieder zurecht. Dann bemerkte sie seinen Blick und erstarrte.
    Fegans Herz machte einen Satz, als er und Marie McKenna mit ihren Blicken aneinanderhingen. Er wollte seine Hand heben und ihr zuwinken, doch sie blieb kraftlos an seiner Seite hängen. Die Zeit setzte aus, wurde bedeutungslos. Dann riss Marie ihren Blick von ihm los, und die Zeit lief weiter. Marie tauchte wieder in die Menschentraube ein, verlor sich darin und gönnte ihm nur noch einen letzten Blick über die Schulter.
    Erst als er sie verloren hatte, bemerkte Fegan, dass seine neun Verfolger sich um ihn geschart hatten. Der Schmerz löste sich auf und hinterließ ein federleichtes Nichts hinter seinen Augen. Die Frau wiegte ihr Baby und lächelte ihn an.
    »Was geschieht mit mir?«, fragte er sie.
    Der Glotzer drehte sich wieder um und starrte ihn an. »Halten Sie den Mund und hören Sie ihm zu.«
    Sein Freund zog ihn am Ellbogen und flüsterte ihm ins Ohr: »Das ist Gerry Fegan.«
    Der Glotzer erbleichte. »Entschuldigung«, murmelte er und wandte sich wieder zum Podium.
    Fegan sah, wie seine Verfolger zwischen den Lebenden herumschlichen und die Gesichter der Trauenden angafften, als seien es Zoobewohner. Manchmal berührten sie sie auch. Die Frau blieb dicht bei Fegan. Auf ihrer Haut spiegelten sich nicht die Sonnenstrahlen, die auf den Friedhof brannten, und der Wind zerzauste nicht ihr Haar. Sie lächelte wieder zu ihm hoch, und ihr ebenmäßiges Gesicht verriet nichts von dem Hass, der doch in ihr lodern musste.
    Nicht drauf achten und ruhig bleiben, betete Fegan sich vor. Er ignorierte sie und konzentrierte sich stattdessen auf McGintys Ansprache.
    »Der Mord an Vincent Caffola«, polterte der gerade, »und wie anders sollte man es nennen - dieser Mord also wirft uns zurück in vergangene Zeiten. Zeiten, als die jungen Menschen in unserer Gesellschaft in ständiger Angst vor der britischen Polizei lebten. Schlimme Zeiten waren das, als die Sektiererei das Gesetz war. Als religiöser Fanatismus das Gesetz war. Als es Gesetz war, unter nationalistisch ebenso wie republikanisch gesinnten Bürgern die Saat des Terrors zu säen.«
    Von den Anhängern kam eine Welle zustimmendem Raunens. McGinty unterbrach sich und ließ seine Worte wirken.
    Die Frau richtete ihre dunklen Augen auf den Politiker, der Säugling in ihren Armen wurde unruhig.
    »Und ich sage: Es reicht«, fuhr McGinty fort. »Unsere Gesellschaft wird nicht länger einfach nur zusehen, wie derlei Grausamkeiten ungesühnt bleiben. Gestern Abend

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