Die Schatten von La Rochelle
kurze, gelegentliche Aufblitzen der Erinnerung an etwas, das sie hinter sich gelassen zu haben glaubte. Es sei denn, beides hing zusam m en. Aber diese Art von Schlußfolgerungen führten nur allzuleicht zu… Nein, darüber würde sie nicht nach d e n ken. Sie at m ete die kühle Luft des Zimmers ein, voll von dem kalten Rauch des erloschenen K a m infeuers von g e stern abend, und sagte laut: »Es wird nicht geschehen.«
Dann kniete sie nieder, versuchte i h ren Geist v on allen Be f ürchtungen frei zu m achen und betete, w i e sie es jeden Morgen tat. Sie betete für die Ar m en von Monsieur Vincent, für die Patres und Nonnen in Neufrankreich, für ihren Bruder, der sich wie gewohnt von einer törichten Unternehmung in die nächste stürzte, für Margot, an die sie ab si chtlich die ganze Zeit über nicht gedacht hatte, für ihre Verstorbenen, für die gesa m te F a milie und schlie ß lich, wie im m e r zum Schluß, da m it nichts anderes m ehr sie von diesem letzten Gebet ablenken konnte, für ihren Onkel, den Kardinal de Richelieu.
Es war unerwartet leicht gewesen, Paris nach so langer Zeit wiederzusehen. Aber schließlich war P a ris n ic h t die Stadt, d ie Gespenster f ür ihn b ereithi e lt, nicht m ehr als das gesa m t e re s t liche Frankreich m it einer Ausnah m e, und er hatte nicht die Absicht, nach La Rochelle zu gehen. Er stand auf dem Pont-Mane und starrte zu der Kathedrale Notre-Da m e, dann zu den zahlreichen Neubauten im Universitätsviertel. »Die Stadt des Lichts«, sagte er spöttisch und ließ sich die W orte in d er französisc h en Sprache, die er lan g e nicht m ehr benutzt hatte, auf der Zunge zergehen. »La cité de la lumière.« Im Augenblick traf das sicher zu, und er war nicht une m p f ä nglich für den Anblick, den der Sonnenaufgang ihm bot. Er war auf alle Fälle angeneh m er als die Verwüstung, d i e der jahrzehntelange Krieg i m deutschen Reich, wo er den größten Teil der letzten Dekade verbracht hatte, angerichtet hatte. Er da chte an d i e verödeten D örfer, an die Leiche n , die inzwi s chen häufig nicht einmal m ehr verscharrt wurden und dort auf den Feldern liegen blieben. Ein Bild kam ihm in den Sinn, das den Krieg dort für ihn sy m bolisierte, ein vergessener, halb verwester Säugling in einem Graben, aber es war frei von E m pörung, Mitleid oder jeder anderen E m otion. Er hatte längst gelernt, sich vom Ballast der Gefühle fre i zu m achen. Es gab Dinge, die sie wieder wachrufen konnten; aber er hatte auch gelernt, die m eisten seiner E r innerungen von den Farben, welche ihnen die E m pfindungen, die er zu dieser Z eit gehabt h a tte, verliehen, zu entkleiden, ohne sie deswegen zu verdrängen oder zu unterdrücken. Der unkontrollierbare Rest diente gelegentlich a u ch dazu, ihm bei der Tätigkeit zu helfen, die er sich gewählt hatte.
Er beabsichtigte, diese Tätigkeit b a ld zu beenden, denn selbst er hatte dem Überdruß und dem Abscheu nicht Einhalt gebieten können, die sich m it den Jahren bei i h m einstellten. Aber noch eines gab es, was er tun m ußte, sein Meisterstück, und wenn er es geleistet hatte, dann konnte er sich wie ein gu t er Handwerker zur ü ckziehen. Seine Aufgabe, die er sich vor zwölf Jahren gestellt hatte und die er nicht eher hatte erfüllen können als eben jetzt. Es war die Zeit, es war der Ort; er war der Mann.
In der T a t, e r war e in M eister geworden, begabt m it der Geduld eines Meisters. Er war sich durchaus im klaren darüber, daß bis zur Vollendung seiner Aufgabe m i nd e stens ein Jahr vergehen konnte, vielleic h t a u ch zwei. E r hatte nic h t die Absic h t, dies e s Spi e l dur c h einen überhasteten Zug zu verlieren.
Jede einzelne Schlinge mußte m ak e llos g ele g t sein. Oliva r es f i e l ihm ein, das breite Gesicht purpurr o t, die Adern angeschwollen, m it Haß in der Stim m e: »Gott m öge mein Zeuge sein, ich würde m i c h solcher Mittel nicht bedienen, w e nn er es nicht hundert m al getan hätte. Aber m an braucht einen W olf, um einen Wolf zu erledigen.«
Gewiß. Doch ihm war die Zielpers o n, als er sie da m als zum ersten Mal gesehen hatte, eher wie e i n R aubvogel erschienen. E r schloß kurz die Augen und rief sich das eine Bild zurück, bei dem er nie eine Veränderung versuchte: der rote Mantel, der im W i nd flatterte, im Seewind, der den Salzgeruch des Meeres in sich trug. Die tiefliegenden dunklen Augen, die langen, dünnen Finger, die sich wie Krallen um die Papierrol l e
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