Die Schattenflotte
«Mit einer Eisenstange oder einem anderen stumpfen Gegenstand.»
Sören drehte den Kopf des Toten zur Seite und untersuchte sein Kinn. Schließlich fand er, wonach er gesucht hatte.
«Ein leichtes Hämatom», bestätigte der Mediziner. «Vielleicht von einer Schlägerei. Für uns unmaßgeblich.»
Wie es aussah, hatte David ihn nicht angelogen. «Findet das in Ihrem Bericht Erwähnung?»
Reuter nickte. «Ich werde den Bericht heute im Laufe des Tages schreiben.»
«Der Mann wurde also von hinten erschlagen. Irgendwelche sonstige Auffälligkeiten?», fragte Sören.
Der Mediziner schüttelte den Kopf. «Nein, keine weiteren körperlichen Auffälligkeiten bis auf seine Beschneidung, aber das ist bei Juden als normal anzusehen.»
«Wurde der Leichnam fotografisch festgehalten?»
«Von uns nicht», erklärte Reuter. «Dafür sehe ich auch keine Notwendigkeit. Ob die Polizei eine Aufnahme am Tatort gemacht hat, entzieht sich meiner Kenntnis.»
«Und die Kleidung des Toten sowie die Habseligkeiten, die er bei sich führte?»
«Verwahren wir natürlich.» Reuter griff unter den Wagen und zog einen Wäschesack hervor. «Was den Ausweisund sonstige Dokumente betrifft, müssen Sie sich allerdings an die Polizei wenden.»
Die Kleidung des Toten sowie die wenigen Dinge, die er in dessen Taschen gefunden hatte, brachten keine neuen Erkenntnisse. Bemerkenswert war allenfalls die Tatsache, dass die Schuhe von Simon Levi nass und schlammverschmiert waren, seine restlichen Kleidungsstücke hingegen trocken und weitgehend sauber. Aber das konnte alle möglichen Gründe haben. Während er die Seewartenstraße entlangging, studierte Sören die beiden Lotteriescheine, ausgestellt von Julius Gertig, welche die Polizei übersehen haben musste. Er hatte sie in der Westentasche des Toten gefunden. Dem Aufdruck nach unterhielt Gertig drei Ausgabestellen, am Steindamm, am Großen Burstah und hier an der Reeperbahn. Gegenüber vom Köllisch Universum am Spielbudenplatz wurde Sören schließlich fündig. Simon Levi hatte die Scheine tatsächlich hier erworben, wie das Mädchen am Stand anhand der Losnummern feststellte, aber sie konnte Sören nicht sagen, wann die Lotteriescheine genau verkauft worden waren. Sören bedankte sich und kaufte am Nachbarstand ein druckfrisches Exemplar des Hamburger Fremdenblattes. Auf der ersten Seite ging es mal wieder um die Koweitfrage und die militärischen Drohgebärden zwischen England und Russland am Persischen Golf. Wenn der Hafen von Koweit nicht der Endpunkt der geplanten deutschen Bagdadbahn hätte werden sollen, hätte sich bestimmt niemand in der Stadt dafür interessiert, mutmaßte Sören und blätterte weiter.
Er überlegte, wie er an ein Foto des Toten gelangen konnte. Ursprünglich hatte er es David zur Identifizierung vorlegen wollen. Aber durch das Hämatom am Kieferdes Toten war die Möglichkeit, dass der Mann, den David geschlagen hatte, vielleicht gar nicht Simon Levi war, hinfällig geworden. Solche Zufälle gab es nicht. Dennoch war ein Foto für die weiteren Nachforschungen einfach notwendig.
Zwei Seiten weiter stolperte Sören über eine Anzeige der Hamburger Gaswerke, die grobe Cokes im gehäuften Maass per Doppelhektoliter frei auf den Wagen für nur zwei Mark anboten, und er überlegte, wie viel Vorrat sie noch im Keller hatten. Wenn es weiterhin so mild blieb, brauchte er sich darum keine Sorgen zu machen. Hinter den veröffentlichten Spendenlisten zahlreicher Vereine und Stiftungen sowie der Ablösung der Neujahrskarten fand er endlich, wonach er gesucht hatte. Die offiziellen Hamburg-Altonaer Fremdenlisten, eine Aufstellung aller in der Stadt verweilenden Fremden, die in einem Hotel abgestiegen waren, sortiert nach Hotel und Familiennamen. Diese Listen waren ein exzellentes Hilfsmittel, wenn man einen Auswärtigen in der Stadt finden wollte. Schon häufiger hatte Sören von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht. Sofern Waldemar Otte mindestens ein Hotel zweiter Klasse bewohnte, war es eine Kleinigkeit, seinen Aufenthaltsort herauszufinden. Allerdings waren es fast vier Seiten. Sören setzte sich ins Café Melgenberger und bestellte ein Kännchen Kaffee mit zwei belegten Rundstücken. Das Frühstück war heute Morgen ausgefallen, weil Agnes am Donnerstag immer Frühdienst in Eimsbüttel hatte und bereits gegen vier Uhr früh das Haus verließ, und nun knurrte sein Magen.
Eigentlich war der heutige Tag ganz anders geplant gewesen. Vor allem Ilka hatte ein enttäuschtes
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