Die Schattenflotte
Gesicht gemacht, als er ihr erklärt hatte, dass es mit dem versprochenen Besuch der Eisbahn auf dem Heiligengeistfeldschon wieder nichts werden würde. Die Schlittschuhe, die sie zu Weihnachten bekommen hatte, waren immer noch nicht eingeweiht, dabei freute sie sich schon so sehr, sie endlich ausprobieren zu können. Erst war es der überraschende Tod seiner Mutter gewesen, der all ihre Planungen zunichte gemacht hatte, und nun diese Geschichte mit David. Ein Kind in Ilkas Alter hatte für die Sorgen und den Kummer, die solche Dinge mit sich brachten, natürlich kein Verständnis. Andererseits war es gerade dies kindliche Gemüt und die unbekümmerte Ausgelassenheit seiner Tochter, die Sören darüber hinweghalfen, dass er seine Mutter verloren hatte. Zudem hatte Clara Bischop ein erfülltes Leben gehabt, und sie hatte nicht leiden müssen. Sören versuchte, die schmerzhafte Erinnerung und den Kloß im Hals herunterzuschlucken. Dann musste er an David denken. Es sah wieder einmal so aus, als ziehe ein schreckliches Ereignis gleich das nächste nach sich. Sören hätte sich, wenn überhaupt, wirklich jede andere Ablenkung von seiner Trauer gewünscht. Zum Beispiel mit Tilda und Ilka auf die Eisbahn zu gehen. Wären es andere Beweggründe gewesen, hätte er vielleicht ein schlechtes Gewissen gehabt. Aber so … Tilda hatte die Tränen ihrer Tochter gerade noch mit einem improvisierten Alternativprogramm bändigen können, als Sören kurz vor Sonnenaufgang das Haus verlassen hatte. Das Fahrrad hatte er zu Hause gelassen, denn für die geplante Fahrt auf die Veddel war der Weg bei den Temperaturen doch zu weit.
Sören hatte es schon fast aufgegeben, aber schließlich entdeckte er den gesuchten Namen doch noch. Waldemar Otte aus Danzig, wohnhaft im Hotel Victoria am Hühnerposten. Er überlegte einen Moment, welche Folgen es haben konnte, wenn er einen Zeugen befragte, ohne einMandat vorweisen zu können, und ob es nicht gescheiter wäre, ihn offiziell in die Kanzlei zu laden. Bei dem, was er ausgesagt hatte, war es zwingend erforderlich, ihn noch einmal zu befragen, denn seine Schilderung des Geschehens wich deutlich von dem ab, was David ihm erzählt hatte. Da man nicht wusste, wie lange Otte sich in der Stadt aufhielt, war es besser, wenn er keine Zeit verstreichen ließ. Vielleicht konnte er ihm auf dem Rückweg von der Veddel einen Besuch abstatten. Aber zuerst musste er klären, was es damit auf sich hatte, dass Simon Levi überhaupt in der Stadt gewesen war. Soweit er wusste, durften die Bewohner der neu erbauten Auswandererstadt das Gelände bis zu ihrer Abreise aus Gründen der Quarantäne nicht verlassen. Sören zahlte und machte sich auf den Weg zur nächsten Haltestelle.
Auf halbem Weg vernahm er hinter sich schon das laute Rattern einer Straßenbahn, die in seine Richtung fuhr, und automatisch hob er den linken Arm, um den Fahrer zum Halten zu bewegen. Im gleichen Augenblick fiel ihm ein, dass es den Fahrern inzwischen verboten war, Fahrgäste zwischen den Haltestellen aufzunehmen. Durch das ständige Halten und Anfahren war es in den letzten Jahren immer wieder zu schweren Unfällen mit Passanten gekommen, die beim Queren der Straße zwischen die Waggons und häufig genug unter die Räder geraten waren. Der Volksmund nannte die Bahn seither Straßenguillotine. Dennoch hielt die Straßenbahn, und er stieg zu. Früher waren fünf Pfennig neben dem Billettpreis der normale Kurs fürs Halten gewesen. Die Fahrer spielten das Spiel anscheinend immer noch mit, denn sie wussten, dass die Schaffner aufgrund ihres geringen Lohns auf dieses Trinkgeld angewiesen waren.
Ratternd setzte sich die Bahn wieder in Bewegung, undder Schaffner ließ die Geldstücke in die Rocktasche gleiten. «Zweimal umsteigen», erklärte er mit einem freundlichen Lächeln, als Sören ihn nach der besten Verbindung fragte. An die Nummerierung der einzelnen Linien, mit der man im vorletzten Jahr begonnen hatte, hatte sich Sören immer noch nicht gewöhnt. Ständig kamen neue Linien hinzu. «Einfacher ist es, wenn der Herr am Berliner Bahnhof in die Dampfbahn wechselt», ergänzte er noch. «Aber ich weiß nicht, ob Sie dort Anschluss haben.»
Die Auswandererhallen waren erst im Dezember eröffnet worden, und Sören war gespannt, was ihn erwartete. Obwohl er schon mehrere Zeitungsberichte darüber gelesen hatte, war er bislang noch nicht vor Ort gewesen. Es hieß, es sei eine richtige kleine Stadt, mit Kirche, Empfangsgebäude,
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