Die Schattenflotte
Verwaltung, Speisehallen. Bei den Unterkünften sollte es sich um einfache Baracken mit großen Schlafsälen für die mittellosen Auswanderer sowie um Logierhäuser für die Passagiere der zweiten und dritten Klasse handeln. Soweit er wusste, galten für alle diese Auswanderer jedoch die gleichen, strengen Quarantänevorschriften.
Seit der großen Choleraepidemie vor zehn Jahren befürchtete man nicht nur in der Stadt ein erneutes Auftreten der Seuche. Vor allem in der Neuen Welt, dem Ziel fast aller Auswanderer, die sich von Hamburg aus auf den Weg machten, fürchtete man ansteckende Krankheiten. Auf Ellis Island, der kleinen Insel vor New York, wo die Passagiere erneut in Quarantäne genommen wurden, hatte man seither die Kontrollen für die Einreiseerlaubnis verschärft. Nicht nur die medizinischen. Die Immigranten mussten zahlreiche Prüfungen über sich ergehen lassen und Fragebogen ausfüllen, damit Sprache, Bildungund Herkunft kontrolliert werden konnten. Neuerdings überprüfte dort eine Armada von Polizeiinspektoren die Ausweispapiere der Einwanderer an den Landungshäfen, nicht nur um Anarchisten fernzuhalten. Die Kontrollen waren verschärft worden, seit der amerikanische Präsident Roosevelt in einer öffentlichen Rede die übermäßige Zahl chinesischer Einwanderer thematisiert hatte. Man befürchtete, dass die billigen Arbeitskräfte aus Asien das Lohnniveau im Lande maßgeblich beeinflussen könnten.
Wie dem auch war, die Bedingungen für die Auswanderer hatten sich in den letzten Jahren dramatisch verändert. Und damit natürlich auch die Vorgaben für diejenigen, die am Auswanderergeschäft verdienten. In erster Linie waren das die Reedereien, in der Stadt namentlich die Hapag, die Hamburg-Amerika Linie, die den Großteil der Auswanderer mit ihren Dampfern in die Neue Welt brachte. Von daher war es verständlich, dass man alle Risiken ausschließen wollte. Und aus diesem Grund hatte die Hapag auch die Auswandererhallen erbaut. Auf einem Terrain abseits der Stadt, aber dennoch nahe genug an den Liegeplätzen ihrer Schiffe.
Schon in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts hatte die Hamburg-Amerikanische Packetfahrt-Actien-Gesellschaft, wie sich das Unternehmen ursprünglich genannt hatte, eigene Unterkünfte für die Auswanderer erbaut. Es waren einfache Baracken gewesen, die man direkt am Amerikaquai aufgestellt hatte. Aber mit dem Ausbruch der Cholera im Jahr 1892 war das Auswanderergeschäft zum Erliegen gekommen. Und auch in den Folgejahren tat man sich in der Stadt schwer damit, der Hapag die erforderlichen Genehmigungen zu erteilen. Die Reederei hatte die Abfertigung ihrer Schnelldampfer erst nach Southampton, dann nach Wilhelmshaven verlegt,und die Zwischendecker, jene Auswanderer, welche die kostengünstigste Überfahrt gewählt hatten, wurden in Stettin an Bord der Schiffe genommen. Erst als die Direktion der Hapag öffentlich damit drohte, das gesamte Geschäft notfalls nach Bremerhaven zu verlegen, knickte der Hamburger Senat ein. Kein Wunder, war die Hamburg-Amerika Linie doch ein kapitalträchtiges Unternehmen. Löhne und Steuern zusammen genommen ließ die Hapag Jahr für Jahr mehr als sechzig Millionen Mark in der Stadt. Dieses Argument wog weit mehr als alles andere.
Wie von der Hapag verlangt, stellte die Stadt dem Unternehmen das Terrain für den Bau der Auswandererstadt kostenlos zur Verfügung. Noch im selben Jahr errichtete die preußische Regierung entlang der deutsch-russischen und der österreichisch-ungarischen Grenze mehrere Kontrollstationen für Auswanderer und übergab sie den Vereinten Dampfschiffsgesellschaften, das waren in erster Linie der Norddeutsche Lloyd aus Bremen und eben die Hapag, zur Verwaltung. Bereits nach wenigen Jahren lief das Geschäft besser als je zuvor. Die Hapag verlegte ihre Abfertigung an den Petersenquai im Baakenhafen, erwarb am O’Swaldkai noch zusätzliche Anlagen im Hansahafen und baute seit 1898 die riesigen Seehäfen auf Kuhwärder aus, die im kommenden Jahr in Betrieb genommen werden sollten. Man hätte denken können, das Unternehmen wolle langsam den gesamten Hamburger Hafen verschlingen.
«Sie wünschen?» Der uniformierte Beamte musterte Sören aufmerksam. Wahrscheinlich war ihm aufgefallen, dass Sören nun schon zum zweiten Mal die Anlage umrundet hatte, wobei er vor allem dem hohen Bretterzaun, der die Auswandererstadt palisadenförmig umschloss, seine Aufmerksamkeit geschenkt hatte.
«Ich habe am Petersenquai an einer
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