Die Schattenflotte
Schiffsbesichtigung teilgenommen», log Sören, «und man sagte mir, auch hier gebe es Führungen für Interessierte.» Nicht nur die Hapag, nein, auch die Stadt selbst warb inzwischen mit der vorbildlichen Anlage. Neben dem neuen Rathaus, dem Panopticum, einer Alsterfahrt, der Stadtwasserkunst mit den neuen Filtrierbecken und den Filtrationsanlagen, dem Hafenblick vom Stintfang aus sowie Hagenbecks Tierpark am Neuen Pferdemarkt hatte man die Auswandererstadt sofort in die offizielle Liste der städtischen Sehenswürdigkeiten aufgenommen.
Der Mann rückte seine Uniform zurecht. «Dafür melden Sie sich bitte in der Verwaltung.» Er deutete auf einen hell verputzten, zweigeschossigen Bau mit flachem Walmdach. Dann zog er eine Taschenuhr hervor. «Sie haben Glück. In einer halben Stunde sollte wieder eine Führung beginnen.»
Kurze Zeit später fand sich Sören in einer Gruppe von Besuchern wieder, die von einem forsch dreinblickenden, ebenfalls uniformierten Beamten der Reederei begrüßt wurde. Den zweireihigen Uniformrock mit den auffallend großen silbernen Knöpfen trug er offensichtlich mit dem gleichen Stolz wie die Schirmmütze, an deren Spitze ein kleiner Anker glänzte. An seiner Seite standen zwei Männer in Zivil, ihrer Erscheinung und Körperhaltung nach zu urteilen, gehörten sie ebenfalls zum Personal der Reederei. Beide trugen eine schlichte schwarze Melone, der Ältere der beiden zudem einen langen weißen Kittel über dem Rock.
«Wir dürfen Ihnen nun mit einem Rundgang durch die Anlage Schritt für Schritt den Weg zeigen, den auch die Auswanderer während ihres Aufenthalts in dieser vorzüglichen Einrichtung durchschreiten. Wir möchtenSie darauf hinweisen, dass Sie im Bereich der unreinen Seite keinen Körperkontakt mit Auswanderern haben dürfen. Ebenso ist es nicht erwünscht, Gespräche mit den fremdländischen Individuen zu führen. Sollten Sie Fragen zum Ablauf bestimmter Dinge sowie zu technischen Details haben, wenden Sie sich bitte an Herrn Müller vom Verwaltungsbüro oder an Dr. Framke, der für die hygienischen Einrichtungen sowie die medizinische Versorgung verantwortlich ist.» Die beiden Männer blickten wortlos in die Runde. «Sollten Herrschaften von der Presse zugegen sein, erlaube ich mir, darauf hinzuweisen, dass wir am Ende des Rundganges einige Broschüren in gedruckter Form vorbereitet haben. Wenn Sie mir nun bitte folgen wollen …»
Direkt gegenüber der Verwaltung begann die Führung. Dort, wo der Palisadenzaun unterbrochen war und ein kleines, hölzernes Wachhaus stand, befand sich das Empfangsgebäude, ein nach außen einfach gehaltener Bau in Form einer eingeschossigen Baracke, an dessen angedeutetem Giebel in großen Lettern der Name der Reederei stand: Hamburg-Amerika Linie. Sie betraten die Empfangshalle durch eine der beiden Türen und standen in einem kargen Raum mit Bänken und Tischen, von dem zu beiden Seiten Flure abgingen. Vor den Korridoren und am Ende der Halle gab es mehrere hölzerne, hüfthohe Absperrgatter, die den Weg markierten, den man zu gehen hatte. «Die Männer rechts, die Frauen nach links», erklärte der Beamte. «Es wird auf strikte Trennung der Geschlechter Wert gelegt.»
Sören betrachtete die Gestalten, die, zusammengekauert und in dicke Mäntel oder Decken gehüllt, an den Tischen saßen und darauf warteten, dass man sie aufrief und zu den Schreibpulten vorließ, wo Männer mit weißenHemden und gestärkten Kragen standen und die Personalien in die Bücher übertrugen.
«Formalitäten, die allein deshalb sehr viel Zeit in Anspruch nehmen, da viele des Lesens und Schreibens nicht mächtig sind. Vor drei Stunden ist ein Zug mit sechzig Auswanderern aus Russland angekommen, vornehmlich jüdischer Religion. Darauf werde ich im Laufe des Rundgangs noch mehrfach zu sprechen kommen. Wir haben Dolmetscher eingestellt, welche die wichtigsten Dinge übersetzen können, damit den Leuten die Angst genommen wird. Sie kommen von weit her und wissen nicht, was sie hier erwartet, bevor sie ihr Schiff besteigen können», fuhr der Beamte fort. «Die Hapag holt sie mit speziellen Zügen von den Kontrollstationen an den Grenzen direkt hierher, aus Bajohren, Eydtkuhnen, Iltosso, Prostken und Ottlotschin.»
Einige der Wartenden blickten kurz auf, als er die Namen aufzählte, dann senkten sie wieder ihren Blick. «Die Züge fahren mit speziellen Waggons, und die Fahrt über werden die Reisenden von Mitarbeitern der Reederei begleitet. Der Transport
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