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Die Schattenflotte

Die Schattenflotte

Titel: Die Schattenflotte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Meyn
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hierher ist im Passagepreis inbegriffen. Da die Auswanderer an den Kontrollstationen bereits medizinisch untersucht wurden», erläuterte er weiter, «beschränkt sich die hiesige Gesundheitsinspektion auf die wesentlichen Verdachtsfälle. Wir befinden uns hier im unreinen Bereich der Anlage. Nach Aufnahme der Personalien und Zuordnung der Unterkünfte und Schiffe, also der Registrierung, durchlaufen die Auswanderer das Prozedere der Desinfektion und einer nochmaligen Untersuchung, bevor sie den reinen Teil der Anlage betreten dürfen.»
    Er wendete sich dem rechten Korridor zu und forderte die Gruppe auf, ihm zu folgen. Überall standen uniformierteMitarbeiter und kontrollierten, wer wohin ging. Sie passierten eine Gruppe Stiefel und Pelzkappen tragender Männer mit mächtigen Bärten, die in Reih und Glied vor einer kleinen Tür warteten. «Doktor Framke, wenn Sie so freundlich wären   …»
    Der Mann mit dem weißen Kittel trat vor die Besucher und räusperte sich mehrmals. Dann öffnete er eine weitere Tür, hinter der eine Art Waschküche lag. «Bei der Desinfektion arbeiten wir mit den allerneuesten Produkten. Sie sehen hier unsere Schimmel’schen Desinfektionsapparate, die mit strömendem Dampf arbeiten und so vor allem eine hohe Durchgangsrate ermöglichen. Pro Stunde lassen sich mit dieser Anlage mehr als fünf Doppelzentner textiler Kleidung desinfizieren.»
    Es folgte ein weiterer Vortrag über die hauseigenen Dampfmaschinen sowie die gesamte Energie-, Strom- und Wasserversorgung der Anlage. Die Duschen, Wannen und Umkleideräume waren von der Besichtigung ausgeschlossen, da sie gerade in Benutzung waren. Nachdem sie einen Blick in die medizinischen Untersuchungsräume geworfen hatten, erklärte ihnen Dr.   Framke, worauf die vier angestellten Ärzte der Hapag besonders achteten: Trachoma. Es handelte sich um eine bestimmte Art einer ansteckenden Bindehautentzündung, die vor allem bei der Einreise in Amerika kontrolliert wurde. Deshalb reichten hier bereits leicht gerötete Augen, um vorerst auf der Untersuchungsstation unter Beobachtung zu bleiben.
    Endlich verließen sie das Empfangsgebäude und gelangten auf die reine Seite der Auswandererstadt. Sören war überrascht, wie viele Menschen sich zwischen den Gebäuden im Freien aufhielten. An einigen Stellen herrschte ein regelrechtes Gedränge; Männer und Frauen jeglichen Alters, die meisten trugen ihre Habseligkeitenin hellen Leinensäcken oder Stoffbündeln bei sich. Bärtige Männer mit seltsamen Kopfbedeckungen, breitkrempigen Hüten oder Fellkappen, viele von ihnen Pfeife rauchend, die Frauen fast ausschließlich bunte Kopftücher tragend, häufig ein oder mehrere Kinder an der Hand oder Kleinkinder auf dem Arm. Aber nicht nur die merkwürdige Kleidung verwies auf ihre Herkunft, auch in den Gesichtern spiegelten sich die fremdländischen Kulturen entfernt gelegener Regionen, und in ihren Blicken erkannte Sören die ganze Bandbreite zwischen Hoffnung und Angst, Stolz und Ungewissheit.
    Während sie die Gassen zwischen den einzelnen Pavillons durchschritten, erklärte der Verwaltungsbeamte die baulichen Vorzüge der neuen Anlage. Wie ein Hufeisen gruppierten sich die einzelnen Bauteile um einen Platz, in dessen Mitte eine Kirche stand. An fast jedem Gebäude hingen Schilder in mehreren Sprachen und verwiesen auf Sinn und Zweck bestimmter Anlagen oder belehrten in Auszügen über die Hausordnung. Russisch und Hebräisch waren allein durch ihre Schriftzeichen zu identifizieren, bei den anderen Sprachen musste es sich um Polnisch und Ungarisch handeln, spekulierte Sören.
    Mit neugierigen Blicken beäugte man die Besuchergruppe, andere blickten verschämt zu Boden. Zwischen all den Auswanderern patrouillierten immer wieder Beamte der Hapag und wiesen die Menschen auf dieses oder jenes hin. Sören beobachtete, wie ein Aufsichtsbeamter mit Hilfe eines Dolmetschers einer Gruppe verwegen dreinblickender Männer zu erklären versuchte, dass es nicht erlaubt sei, auf dem Boden Feuer zu machen. Die jungen Männer, der Kleidung nach Kosaken aus der Ukraine, schüttelten verständnislos die Köpfe.
    «Wer es sich leisten kann, zahlt hier eine Mark pro Tagfür Zimmer, Verpflegung, Bad und Desinfektion sowie die ärztliche Behandlung. Für diejenigen, die nichts außer der bezahlten Passage besitzen, übernimmt die Hapag die Kosten des Aufenthalts», erklärte Herr Müller und beantwortete die erste Frage, die an ihn gestellt wurde. «In der Regel bleiben die

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