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Die Schattenflotte

Die Schattenflotte

Titel: Die Schattenflotte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Meyn
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Auswanderer vierzehn Tage in der Anlage. Sollte es aus medizinischen Gründen notwendig sein, auch länger.»
    Sie warfen einen kurzen Blick in eine der Doppelbaracken, in denen die Auswanderer untergebracht waren. Durch einen Windfang gelangte man in den Aufenthaltsraum, von dem zu beiden Seiten jeweils zwei Schlafsäle mit 22   Betten abzweigten. Vom Aufenthaltsraum aus gelangte man auch zu den sanitären Anlagen, über welche je zwei Pavillons miteinander verbunden waren. «Es wird bei der Unterbringung natürlich auf die strikte Trennung der Geschlechter geachtet», kommentierte Müller und fügte hinzu, dass die Menschen nach Möglichkeit auch nach Herkunft und Religion getrennt untergebracht würden, da sich das Unternehmen von dieser Maßnahme weniger Auseinandersetzungen zwischen den Auswanderern versprach. «Fast die Hälfte der Auswanderer ist jüdischen Glaubens. Von daher haben wir auch zwei voneinander getrennte Speisehallen, zu denen ich Sie jetzt begleiten darf.»
    Als sie die Logierhäuser passierten, welche die Speisehalle zu beiden Seiten flankierten, und Müller darauf hinwies, dass dort die betuchteren Reisenden in Vierbettzimmern untergebracht seien sowie die alleinstehenden Frauen, für deren Tugend man extra Hausmütter zur Betreuung angestellt habe, konnte sich Sören die Frage, ob es den Bewohnern gestattet sei, die Anlage zu verlassen, nicht mehr verkneifen. «Nein», antwortete Müller,schränkte aber sogleich ein, dass das Unternehmen darüber nachdenke, den Reisenden der zweiten und dritten Klasse das Verlassen der Anlage zukünftig zu gestatten, soweit sie nicht aus russischen Gebieten kämen, denn für Transitreisende aus anderen Ländern gebe es ja auch keine Unterbringungspflicht in der Auswandererstadt. Dann hielt er einen kurzen Vortrag darüber, dass es früher häufig so gewesen sei, dass Auswanderer in städtischen Logierhäusern und durch überhöhte Preise in Nippes- und Warengeschäften sowie Spelunken regelrecht um ihre Ersparnisse gebracht worden seien und sie sich schließlich die Passage in die Neue Welt nicht mehr hatten leisten können und mittellos in der Stadt herumvagabundiert seien. Den Versuchungen der Stadt habe man mit dieser vorbildlichen Anlage ebenfalls einen Riegel vorgeschoben.
    Der Vortrag klang ein wenig wie ein auswendig gelernter Text aus einer Werbebroschüre, fand Sören und verzichtete auf weitere Fragen. Die Tugend alleinreisender Frauen, die strikte Trennung der Geschlechter, die Berücksichtigung der Religionen, alles zum Wohl der Auswanderer und natürlich alles auf Kosten der Hapag. Wahrscheinlich kamen häufig Presseberichterstatter von auswärts, denen man mit solchen Aussagen das ach so selbstlose Anliegen des Unternehmens verkaufen wollte. Die Realität sah sicher anders aus. Wahrscheinlich verdiente die Reederei an den Passagepreisen so viel, dass es keine Rolle mehr spielte, ob man hier noch eine Mark pro Tag zusätzlich Gewinn machen konnte. Simon Levi war im Besitz einer Zwischendeckpassage gewesen. 160   Mark hatte er dafür bezahlt, inklusive des Transfers von der russischen Grenzstation hierher. Und ihm war gelungen, was angeblich nicht möglich war: Er hatte die Anlage verlassen.
    Wie, das musste herauszufinden sein. Sören hatte vorhin schon im Verwaltungstrakt der Anlage gesehen, dass es eine eigene Polizeistation in der Auswandererstadt gab. Er war einigermaßen überrascht, dort auf ein ihm bekanntes Gesicht zu stoßen.
    «Oberwachtmeister Völsch, wenn ich mich richtig erinnere?» Völsch war vor einigen Jahren bei der Aufklärung eines Falles behilflich gewesen, bei dem man einem seiner Mandanten unterstellt hatte, bei Reparaturarbeiten Feuer auf einem auf Halde liegenden Schiff gelegt zu haben. Bei den Nachforschungen hatte sich der junge Oberwachtmeister der Hafenpolizei selbst in Lebensgefahr gebracht, aber letztendlich hatte er herausfinden können, dass es in Wirklichkeit ein Heizer gewesen war, der wertlose Reste von Diebesgut im Kohlenbunker des Schiffes hatte verschwinden lassen wollen.
    «Sie erinnern sich richtig, Dr.   Bischop. Nur dass ich inzwischen im Rang eines Polizeileutnants stehe.» Er reichte Sören die Hand. «Habe die Ehre.»
    «Na dann, Gratulation, Herr Polizeileutnant. Und bei der Hafenpolizei sind Sie auch nicht mehr.»
    «Aber den Schiffen immer noch sehr nah. Welches Anliegen führt Sie hierher?»
    «Ein Verbrechen, Polizeileutnant. Sagt Ihnen der Name Simon Levi etwas?»
    Völsch nickte spontan.

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