Die Schattenflotte
hatten, war Schmidlein erneut zu einem Zeitungsaushang gegangen und studierte die Wettervorhersage. Für morgen waren trockene sechs bis zehn Grad angekündigt. Zudem gab es eine Sturmwarnung für die Nord- und obere Ostsee.
«Meine jetzige Unterkunft ist nicht beheizt», entgegnete Schmidlein. «Ein Abrisshaus westlich des Neustädter Neuen Wegs. Daher nehme ich dein Angebot wirklich gerne an. Was hat es mit der alten Dame auf sich, von der du sprachst?»
«Lisbeth war die Gesellschafterin meiner verstorbenen Mutter. Mach dir keine Sorgen, das Haus ist groß genug. Und sie ist froh, wenn noch jemand im Haus ist. Zumindest nachts. Ich habe sie darauf vorbereitet, dass du für eine Zeit dort wohnen wirst. Erst nur du und später auch David.» Sie passierten das ehemalige Varieté-Theater, das vor einigen Jahren in Drucker-Theater umbenannt worden war, und dann die Davidwache. Sören musste an den merkwürdigen Zufall der Namensgleichheit denken, der seinem Ziehsohn zum Schicksal geworden war. Hier musste Waldemar Otte das von ihm beobachtete Geschehen angezeigt haben. «Wie habt ihr euch eigentlich kennengelernt?»
«In Hannover an der Technischen Hochschule. Wir haben aber nicht im gleichen Fachbereich studiert. David war ja bei den Bauingenieuren, und ich habe Allgemeinen Maschinenbau und Schiffbau studiert. Aber es gab natürlich studentische Gruppierungen, die durch die Partei organisiert waren.»
«Und auf einer solchen Veranstaltung seid ihr euch begegnet?»
Schmidlein nickte. Sie wichen einer Gruppe Matrosen aus, die ihnen mit geschulterten Seesäcken und lautsingend entgegenkamen. «Jetzt, wo ich weiß, dass keine Gefahr droht, kann ich ja auch die Stelle in der Werft antreten. Ich werde mich gleich morgen bei Blohm + Voss melden.» Er lächelte. «Aber diesmal nicht bei den Nietenkloppern, sondern im Entwurfsbüro der Abteilung für Wissenschaftliches Versuchswesen, wo man mir eine Stelle als Ingenieur angeboten hat. Ich kann nur hoffen, dass man mir die zwei Tage nachsieht. Unpünktlichkeit ist kein gutes Zeugnis für den Beginn eines Arbeitsverhältnisses. Aber bei den vielen Neueinstellungen, wie sie die Werft derzeit vornimmt, braucht man wahrscheinlich jede verfügbare Kraft. Von daher bin ich guter Dinge. Die Werften bekommen immer mehr Aufträge. Neubauten, Reparaturen, allein für den Dockbetrieb werden derzeit mehr als zwanzig Fachkräfte gesucht. Und dazu noch die ganzen Kriegsschiffe …»
«Ist diese unglaubliche Flottenrüstung für dich als Sozialdemokrat überhaupt mit deinem Beruf vereinbar?»
«Die Abteilungen sind streng getrennt», sagte Schmidlein flüchtig. «Mit Kriegsschiffen habe ich kaum etwas zu tun. Der Bau Seiner Majestät Schiffe wird auf den nicht kaiserlichen Werften durch Marinebaumeister beaufsichtigt.»
«Aber du kennst dich dennoch aus?»
«Ein wenig», entgegnete Schmidlein, und seine Augen blitzten neugierig.
«Was sagen dir 160 Meter Länge und 50 000 PS?»
«Für einen Passagierdampfer nicht lang genug und für einen Schlachtkreuzer zu viel Leistung. Die letzten Schiffe für Lloyd und Hapag hatten alle eine Länge von über 200 Metern und Expansionsmaschinen, die auf etwa 30 000 PS kommen. Diese Leistung ist nötig, um die Kolosse auf eine Geschwindigkeit von über 22 Knoten zukriegen. Die großen Schlachtkreuzer, etwa der gerade bei Blohm + Voss fertiggestellte Kaiser Karl der Große, haben eine Länge von 120 bis 130 Metern. Von Kriegsschiffen mit mehr als 15 000 PS habe ich allerdings noch nie etwas gehört.»
Man merkte sofort, dass Willi Schmidlein in seinem Metier war. Es sprudelte förmlich aus ihm heraus. Auch wenn er nichts mit dem Bau von Schiffen der Marine zu tun hatte, die Details, von denen er wusste, zeigten, dass er sich bestens auskannte. Sören spitzte die Ohren. «Allerdings ist man gerade dabei, zu überlegen, die Panzerarmierung der Schiffe noch weiter zu erhöhen. Bislang wurden 25 Zentimeter nicht überschritten. Aber die Krupp’schen Stahlplatten mit bis zu 30 Zentimeter Stärke liegen schon bereit. Ebenso die Geschütze. Der Kaiser Karl der Große hat gerade vier der neuesten L 40 9,5" bekommen – und man munkelt, dass der Schlachtkreuzer in absehbarer Zeit mit Rohren von 28 Zentimeter Durchmesser aufgerüstet werden soll.»
«Die liefert auch Krupp?»
Schmiedlein lachte. «So etwas kann niemand sonst herstellen. Zumindest nicht in Deutschland. Die Produktion der Geschützrohre soll
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