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Die Schattenflotte

Die Schattenflotte

Titel: Die Schattenflotte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Meyn
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blind. Sören dachte erneut an den Matrosenanzug, den er für Ilka gekauft hatte. Die Vereinnahmung geschah, ohne dass man sich dessen wirklich bewusst war. Brauchten wir diese riesige Seemacht wirklich? War England wirklich ein Gegner oder doch viel eher ein Nachbar und ein Handelspartner? England war ein Inselstaat. Schon allein daher benötigte man dort viele Schiffe. War die Seemacht Englands nicht in Wirklichkeit eine natürliche Folge der zig Kolonien, die man seit langem hatte? War es schlau, dieser Vormachtstellung mit einer Kriegsflotte entgegenzutreten? Diese Fragen hatte Martin zum Schluss in den Raum gestellt. Einig waren sie sich, dass es gefährlich war, was von Tirpitz tat. Denn er schien nicht nur die Rückendeckung des Kaisers zu haben, sondern inzwischen auch die alleinige Verfügungsgewalt zu besitzen.
     
    Willi Schmidlein war auch heute nicht zu übersehen. Von der Statur her war er eher klein, aber seine Haare leuchtetenSören schon von weitem entgegen. Er stand am Zeitungsaushang neben dem Köllisch Universum und studierte die Sonntagspresse. Sören tippte ihm vorsichtig von hinten auf die Schulter, und erschrocken drehte sich Schmidlein um. Als er Sören erkannte, löste sich seine Anspannung.
    «Hat dich meine Nachricht erreicht?», fragte er, nachdem sie sich die Hand geschüttelt hatten. «Konntest du mit der Adresse etwas anfangen?»
    «Ist er durch den Torbogen und die Einfahrt hineingegangen, oder hat er die Tür genommen?»
    «Die Einfahrt», sagte Schmidlein. «Ich hab noch eine Weile gewartet, ob er sich nur vergewissern will, dass ihm niemand folgt, aber er ist nicht wieder rausgekommen.»
    Sören wiegte unschlüssig den Kopf. «Die Hamburger Polizeizentrale», sagte er schließlich. «Unser Stadthaus.»
    Willi Schmidlein blickte ihn erschrocken an, aber Sören machte eine beschwichtigende Geste. «Keine Angst», fügte er in beruhigendem Tonfall hinzu, dennoch hatte er seine Stimme gesenkt. «Das hat nichts mit dir zu tun.» Ganz sicher war er sich nicht, aber wenigstens war Schmidlein dem Kerl nicht aufgefallen. Anderenfalls hätte er ihn nicht zum Stadthaus geführt. Und da Willi Schmidleins Haarfarbe ein Erkennungszeichen allererster Güte war, konnte er davon ausgehen, dass er ihn nicht kannte. «Hast du Hunger?» Bei Tageslicht war zu erkennen, dass Schmidleins Gesicht über und über mit Sommersprossen bedeckt war, wie es bei vielen Rotschöpfen der Fall war. Seine Augen weiteten sich. «Dann spendier ich uns mal ’ne Runde warmen Apfelkuchen», sagte Sören und steuerte auf den nächsten Stand zu, an dem sich schon eine Schlange gebildet hatte.
    Das Publikum auf dem Spielbudenplatz und der Reeperbahnunterschied sich am Tage grundlegend von den Gestalten, die hier in der scheinbaren Intimität der Dunkelheit ihr Vergnügen suchten. Sonntags war der Unterschied noch offensichtlicher. Es mochte daran liegen, dass viele Betriebe und Institutionen geschlossen hatten. Nur vereinzelt begegnete man angetrunkenen Seeleuten und all denjenigen, die erst jetzt aus den Spelunken und Varietés, Pinten und Etablissements ans Tageslicht kamen. Mehrheitlich war es das Heer der Neugierigen, welches die Straßen bevölkerte. Zur Flaniermeile wurde die Reeperbahn damit auch sonntags noch lange nicht. Der Blick in die Seitengassen war ernüchternd. Hier offenbarte sich dem Betrachter nun die schamlos zur Schau gestellte Trostlosigkeit eines Quartiers, dessen einziger Zweck das nächtliche Schauspiel war. Das Schauspiel von unbekümmerter Ausgelassenheit und scheinbarer Freiheit war der Arbeitsplatz all derer, die durch Elend und Misere, Leid und Verzweiflung den hoffnungslosen, verlogenen Weg eingeschlagen hatten. Der Müll dieses nächtlichen Betriebs stapelte sich jetzt an verschmutzten und beschmierten Hauswänden, deren Putz sich an vielen Stellen bereits gelöst hatte. Sören wandte den Blick von einer Frau, die ihre Röcke gehoben hatte und ohne Hemmung in den Rinnstein urinierte. Im Hauseingang daneben saßen zwei verwahrloste Kinder und machten sich mit derben Sprüchen über die Frau lustig. Der Gestank in den Gassen war entsetzlich. Über den Ausdünstungen von Unrat und Müll zogen immer wieder Schwaden übelster Gerüche, die aus den Schloten der fischverarbeitenden Werke, der Räuchereien und Fischmehlfabriken am Elbhang von St.   Pauli und Altona hier herüberzogen. Auch am Sonntag.
    «Was bist du so am Wetter interessiert?», fragte Sören.Nachdem sie ihren Apfelkuchen verspeist

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