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Die Schattenflotte

Die Schattenflotte

Titel: Die Schattenflotte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Meyn
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großen Schiffen wie das schnaufende Stampfen der Lokomotiven zur Eisenbahn. Es klang aufregend. Tatsächlich kam für einen Augenblick Bewegung in die Menge. Die ersten Taschentücher wurden gezückt, und man winkte vom Deck des Schiffes zurück, obwohl noch immer Menschen die Gangways benutzten, um auf ihr Schiff zu kommen. Auf, auf zu großer Fahrt, signalisierte das Tuten, und der mächtige Ton symbolisierte zugleich Sicherheit. Besonders wichtig war das für diejenigen Passagiere, die zum ersten Mal einen Dampfer bestiegen hatten, denn die scheinbare Größe der Stahlkolosse hier an der Pier relativierte sich schnell, wenn am Horizont das Land verschwand und das Schiff nur noch von den riesigen Wellen des Atlantiks umgeben war. Der größte Teil der Passagiere an Bord der Pennsylvania hatte zuvor noch nie ein Schiff gesehen, geschweige denn betreten. Bestimmt mehr als drei Viertel dieser Menschen hatten keinen Rückfahrschein gelöst – und es war eher unwahrscheinlich, dass sie jemals wieder eine solche Fahrt auf sich nehmen würden.
    Es war einer von den großen, behäbigen P-Dampfern der Hapag, der hier an den St.   Pauli Landungsbrücken lag und auf seine Verabschiedung in Richtung Amerika wartete. Die Pier durfte nur betreten, wer einen Fahrschein erster oder zweiter Klasse vorweisen konnte. Vornehm gekleidete Herrschaften, hinter denen mehrere Gepäckwagen mit riesigen Seekoffern und Kisten standen, wurden von den Beamten der Reederei kontrolliert. Pagen und Kofferträger verfrachteten anschließend die Gepäckstücke über eine eigene Gangway in den Bauch des Schiffes. An der Reling drängten sich Hunderte von Menschen. Die meisten davon Auswanderer, Zwischendecker und Passagiere der dritten Klasse, die von dem gebotenen Luxus an Bord während der Fahrt nichts sehen würden. Den größten Teil der Reise würden sie in einem streng abgeschotteten Bereich, dem Zwischendeck, zubringen, einem Massenquartier mit einfachster Kost und nur so viel Raum wie unbedingt nötig. Es ging besser und hygienischer zu als auf den Auswandererseglern vor etwa fünfzig Jahren, aber immer noch herrschte bedrückende Enge.
    Die Auswanderer mussten seeseitig zusteigen. Sie wurden mit eigens dafür gebauten Tendern, größeren Hafenbarkassen mit Schaufelrädern, von der neuen Auswandererstadt auf der Veddel zu den Schiffen der Hapag gebracht. Sören musste an Simon Levi denken. Auch er hatte auswandern wollen – auf einem Schiff der Hapag   –, in Richtung Amerika, einer ungewissen Zukunft entgegen. Ein Mann in den besten Jahren, der in der Silvesternacht ein wenig Vergnügen gesucht hatte. Auf St.   Pauli natürlich, wo sonst. Und er hatte es geschafft, die Auswandererstadt zu verlassen. Der Ruf der Reeperbahn eilte dem Quartier weltweit voraus. Aber dort, wo Amüsement und Kurzweil geboten wurden, tummelten sich auch Ganoven und Betrüger, halbseidene Gestalten genauso wie mörderischesGesindel. Hier lauerten Fallgruben für unerfahrene junge Männer aus der Provinz. War der naive Simon Levi dort an ein leichtes Mädchen geraten, das ihn hatte ausnehmen wollen? Welche Rolle sonst konnte diese Frau spielen?
    Sören hoffte, der Ort des Verbrechens könnte einen Hinweis darauf geben. Er schlug den Kragen hoch und blickte auf die Turmuhr des Michels. In einer halben Stunde hatte er sich mit Willi Schmidlein auf dem Spielbudenplatz verabredet. Einen kurzen Augenblick überlegte Sören, ob Schmidlein überhaupt kommen würde, aber dann verwarf er seine Zweifel. So, wie er den Mann inzwischen kannte, brauchte er nichts zu befürchten. Ganz im Gegenteil. Für Willi Schmidlein schien es mittlerweile eine Ehrensache zu sein – sonst hätte er sich nicht so bereitwillig auf die gestrige Verfolgungsjagd eingelassen.
    Sören schwenkte nach links und stieg den Elbhang in Richtung Seewartenstraße hinauf. Noch einmal war das Tuten des Nebelhorns zu vernehmen, und Sören drehte sich unvermittelt um. Er wollte kontrollieren, ob ihm jemand folgte.
    Auch wenn nichts Verdächtiges zu sehen war, fühlte sich Sören nach wie vor beobachtet. Gegenüber der Elbwarte ließ er sich für einen Moment auf einer Bank nieder und schaute in die Gesichter der Passanten, die an ihm vorbeigingen. In der Mehrzahl waren es Pärchen oder Familien auf ihrem sonntäglichen Spaziergang, auf dem Weg hinunter zum Elbufer oder bergauf in Richtung Heiligengeistfeld. Die Kinder waren dick eingepackt und balancierten auf den Abgrenzungen zu den Grünanlagen jenseits

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